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   Gibt es ausserirdische Technologie nur in den
    Hangars supergeheimer Luftwaffenlestgelände in
    den USA?
   Was verbergen der ehemalige Stasigeneral und
    der Standartenführer der SS seit Jahrzehnten in
    der unterirdischen Anlage in Mecklenburg?
   Welche Ziele verfolgt ein KGB-Oberst mit dem
    dort Versteckten?
   Ist die Demokratie im vereinten Deutschland
    gegen jähe Änderungen der politischen
    Machtverhältnisse wirklich gewappnet?
   Ein Journalist aus Kassel begibt sich bei dem
    Versuch,       ein   unglaubliches     Komplott
    aufzudecken in Lebensgefahr.
Ich habe genügend Konstruktionsunterlagen und Produktionspläne
gesehen, um sagen zu können, daß -wenn sie den Krieg noch für einige
Monate hätten verlängern können - wir mit vollkommen neuartigen und
todbringenden Waffen konfrontiert worden wären.


Aus dem Bericht des Leiters einer britischen Spezialistengruppe zur
Untersuchung der deutschen "Wunderwaffen"
Deutschland 1945
Kapitel I
   Kassel, Rostock, Berlin - März 1995. Der ICE verließ am frühen morgen
den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe in Richtung Norden. Ich saß in einem
der Erste-Klasse-Großraumwaggons und schaute aus dem Fenster.
Draußen war es noch dunkel und der Regen peitschte gegen die Schei-
ben.
   Der Zug hatte relativ schnell beschleunigt und bald das Stadtgebiet ver-
lassen. Einige Stunden Zugfahrt hatte ich nun vor mir, denn das Ziel mei-
ner Reise war die Hafenstadt Rostock an der Ostsee. Ich fuhr zur Beiset-
zung meines Vaters. Eine angenehme Reise war es also keinesfalls.
Außerdem würde sie, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht
einmal ahnte, viel Unruhe in mein Leben bringen.
   Ich bedauerte, daß ich diese Fahrt nicht schon drei Wochen vorher
angetreten hatte, gleich nachdem mein Vater einen ersten Schlaganfall
erlitten hatte. Da ich mich mit ihm nicht sehr gut verstand, hatte ich es
unterlassen. Dies bereute ich jetzt natürlich sehr. Aber wie das so ist,
wenn man etwas bereut, dann ist es in der Regel zu spät.
   Der Grund für die Diskrepanzen zwischen uns lag )ahre zurück. Vater
hatte mir nie verziehen, daß ich nicht seinem Wunsche entsprechend
Offizier, sondern statt dessen Journalist geworden war.
  Offizier wollte ich nie werden, schon gar nicht, wie er, beim MfS. Nach
meinem Journalistikstudium hätte ich ihn aber durchaus noch versöhnlich
stimmen können, wenn ich wenigstens bei einem sogenannten Par-
teiorgan Redakteur geworden wäre und seinen geliebten Sozialismus in
den höchsten Tönen besungen und in den schönsten Farben gemalt
hätte.
   Aber Kaisergeburtstagsdichter zu sein, widerstrebte mir ebenso. Ich ver-
mochte es nicht, das DDR-Regime, dem ich kaum etwas abgewinnen
konnte, zu beweihräuchern. So verzichtete ich trotz eines glänzenden
Universitätsabschlusses auf eine mir vorausgesagte Karriere als Journalist
und wurde ein schlecht bezahlter Mitarbeiter an einem unbedeutenden
heimatgeschichtlichen Blatt, das vom Kreismuseum einer thüringischen
Kleinstadt herausgegeben wurde. Inzwischen arbeite ich allerdings seit
einigen jahren recht erfolgreich als Redakteur in einem nordhessischen
Rundfunkstudio und habe meine Zelte in Kassel aufgeschlagen.
   Nun war aber ein Fall eingetreten, mit dem ich nicht gerechnet hatte.
Mein Vater war an den Folgen eines zweiten Schlaganfalls verstorben.
Das hatte mir Mutter mühsam gefaßt mitgeteilt, als sie mich vor zwei
Tagen angerufen hatte.

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Was mir seitdem nicht aus dem Sinn ging, das waren die Worte, die sie
schluchzend hinzugesetzt hatte:"... weil ihn dieser Quader so sehr aufge-
regt hat!" Was konnte sie damit nur gemeint haben?
   Den erwähnten Quader hatte ich im Wendejahr 1989 kennengelernt.
Vater hatte mit Kollegen aus der Waffentechnischen Versuchsanstalt, kurz
WVA genannt, seinen Sechzigsten gefeiert. Es war im Sommer, von der
kommenden totalen politischen Wende ahnte noch niemand etwas.
  Ich baute gerade mit Bernhard, meinem Schwager, den Grill auf, da
hörte man sie schon, sich dem Wochenendgrundstück nähern. Als Erster
stürmte Quader auf Vater zu, umarmte den etwas verdutzt dreinschauen-
den Jubilar und gratulierte lautstark: "Genosse Kaiserr! Du um Forschung
und Entwicklung in WVA verdient sich gemacht hast iberr viele Jahrre.
Weiß sich Parrtei dies zu wirrdigen. Deshalb gehörrst zu Genossen, wo
sich Medaille '40 Jahrre DDR' errhalten zum 7. Oktobern Kann sagen dirr
als Parrteisekrretärr schon heute das. Weißt sicherr, daß sich gibt nurr
kleines Kontingent fürr WVA!"
  Aufgrund seiner Aussprache und wegen des seltsamen Satzbaues
glaubte ich zunächst, daß dieser Mann kein Deutscher sei. Quader muß
damals so um die Fünfzig gewesen sein. Er war nicht größer als 1,75 und
sehr stämmig gebaut. Sein Kopf war fast kahl. An seine kalten grauen,
stets nervös zuckenden Augen kann ich mich noch gut erinnern. Der
Mann war, wie ich später erfuhr, der Parteisekretär der WVA, Oberst Her-
mann Quader, genannt der "Kommissar". Aber was sollte dieser Mensch
mit dem Tod meines Vaters zu tun gehabt haben?
  Der Zug hatte inzwischen Hannover erreicht. Ich schaute aus dem Fen-
ster und beobachtete das rege Treiben auf dem belebten Bahnsteig. Als
der ICE wieder anfuhr schlug ich ein Wochenmagazin auf, das ich mir vor
Fahrtantritt in Kassel gekauft hatte. Unkonzentriert blätterte ich darin
herum. Aber sehr schnell waren meine Gedanken wieder bei der
Geburtstagsfeier.
  Gleich nach Quader war ein großer, kräftig gebauter älterer Mann an
den Senior herangetreten und hatte ihm einen riesigen Blumenstrauß und
eine feine Ledermappe überreicht: "Herzlichen Glückwunsch, Genosse
Kaiser, mögen alle Ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Auf weitere gute
Zusammenarbeit." Das war General Keter, der Chef meines Vaters gewe-
sen.
  An die weiteren Personen kann ich mich nicht mehr so genau erinnern,
bis auf Michael Rummel, den Adjutanten des Generals. Er war der Jüng-
ste in dieser Gruppe, etwa in meinem Alter, also um die Dreißig, und mir
gleich wegen seiner relativ offenen, unkomplizierten Art sympathisch
gewesen.

6
Die Durchsage, daß der Zug in wenigen Minuten im Hauptbahnhof von
Hamburg einlaufen werde, riß mich aus meinen Gedanken.
   Zwanzig Minuten später saß ich dann im Interregio nach Rostock. Und
schon wieder fielen mir die Worte meiner Mutter ein: "... weil ihn dieser
Quader so sehr aufgeregt hat!"
   Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen, denn das Verhältnis
meines Vaters zu diesem Quader schien nicht schlecht gewesen zu sein.
Ich sehe noch immer vor mir, wie Quader damals im Garten mit einem Teil
des Eßbestecks an sein Glas schlug und zum wiederholten Male einen
freundschaftlichen Toast auf Vater ausbrachte.
   Ich muß gestehen, daß mir der Mann nicht sonderlich sympathisch
gewesen war, da er sich immer wieder in den Vordergrund drängte und
weil er sich so überhaupt keine Mühe zu geben schien, klares Deutsch zu
sprechen.
   Michael Rummel, mit dem ich mich an diesem Abend unterhielt, deutete
an, Quader wolle als Russe gelten, weil er sich so allen überlegen fühlen
konnte. Er wähne sich damit nicht nur auf der Seite der Stärkeren,
sondern er vermeine selbst einer der Stärkeren zu sein. Wir machten, da
wir uns nicht kannten, natürlich vorsichtig, unsere Witzchen über Quader.
Michael meinte aber, der Mann sei eigentlich nicht zum Lachen, eher zum
Heulen. Gerade diese letzte Aussage war von beinahe prophetischer
Bedeutung. Das konnten wir allerdings damals beide noch nicht wissen.
  jetzt aber konnte ich mir einfach nicht erklären, wieso dieser Mensch
meinen Vater, der doch seit einiger Zeit beruflich nichts mehr mit ihm zu
tun hatte, so aufgeregt haben sollte. Ich nahm mir vor, Mutter noch einmal
danach zu fragen, und zwar dann, wenn sie sich nach der Beerdigung
etwas beruhigt haben würde.
   Das erinnerte mich wieder an die bevorstehende Trauerfeier. Vater ist
tot, dachte ich. So früh. - Eigentlich hat er auch immer nur gearbeitet,
sogar im Urlaub, solange ich zurückdenken kann. Ein Leben lang. Die
meiste Zeit jedoch in der WVA, wie die Waffentechnische Versuchsanstalt
des MfS genannt wurde. Die befand sich zu DDR-Zeiten in Warenthin im
Bezirk Rostock.
   Der Senior, in unserer Familie wurde mein Vater übrigens stets der
"Senior" genannt und ich der "Junior", weil wir beide Theo heißen, der
Senior also war seit 1972 Mitarbeiter dieser Einrichtung und in den acht-
ziger Jahren als Oberst Leiter von Forschung und Entwicklung gewesen.
Nach der Wende war er bis Anfang 1995 Mitglied der Geschäftsleitung der
aus der WVA entstandenen "Special High Tech Warenthin GmbH (SHT)".

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Da arbeitet man ein Leben lang und freut sich vielleicht auf ein paar
schöne Jahre ohne den Berufsstreß - und dann war's das! Ich schüttelte
den Kopf. Als ich mir darüber bewußt wurde, schaute ich mich im Abteil
um, aber es hatte niemand meine Selbstgespräche bemerkt.
   Mit mir hatte Vater ja, ehrlich gesagt, auch keine große Freude. Zwar
waren wir nie richtig verfeindet gewesen, aber meine Besuche bei den
Eltern waren doch in all den Jahren recht selten gewesen. Ich dachte
daran, daß ich dagegen nach der Wende in recht kurzen Abständen
mehrmals in Rostock gewesen war. Ich fragte mich, ob es mich wohl
dorthin getrieben hatte, um dem Senior deutlich zu zeigen, daß ich Recht
gehabt hatte mit meiner politischen Verweigerung, während er mit seinem
Engagement so völlig falsch lag? Wie auch immer. Es zeigte sich
jedenfalls, daß Vater nach wie vor der Meinung war, daß der Sozialismus
eine gute Sache sei, die leider nicht richtig umgesetzt worden wäre. Er
war enttäuscht, aber er klammerte sich noch immer an den Gedanken,
daß noch nicht alles verloren sei. Irgendwie schienen er und wohl auch
seine Genossen in der SHT nach wie vor der Meinung zu sein, man könne
die verfahrene Geschichte immer noch zugunsten des Sozialismus
korrigieren.
   Eine Stimme schreckte mich aus meinen Gedanken auf: "Ihren
Fahrausweis bitte!" Irgendwo hatte ich doch ... Ich griff in verschiedene
Taschen. Aber ich fand die Fahrkarte nicht. Es wurde schon langsam
peinlich. Ein Mädel, das mir schräg gegenüber saß, grinste bereits
belustigt vor sich hin. Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich den Fahrschein
im Mantel hatte.
   Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, daß es nicht mehr weit bis Rostock
sein konnte.
  Ich dachte an Vaters letzte Arbeitsstelle. Womit sich diese Nachfolge-
einrichtung der WVA, die SHT, für die er seit 1990 einer der Geschäfts-
führer gewesen war, nun eigentlich beschäftigte, das hatte er mir nie
gesagt. Eines schien aber klar zu sein. Da hatten ein paar hohe Offiziere
den Betrieb, der vorher eine Stasiinstitution gewesen war, per Eintragung
als GmbH einfach zu ihrem Eigentum gemacht. So wie sich verschiedene
LPG-Vorsitzende und Betriebsdirektoren aller Art das ehemalige "Volksei-
gentum" unter den Nagel gerissen hatten, dort wo keine Wessi-Unterneh-
mer für den symbolischen Kaufpreis von einer Mark das Rennen gemacht
und die Betriebe endgültig zugrunde gerichtet hatten. Moderne Raubritter,
wie ich fand, sanktioniert und gefördert durch Unterlassungen oder direkte
Kumpanei sogenannter "Treuhänder".
  Ich legte das Magazin, das ich ungelesen in Händen hielt, wieder zur
Seite, schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft aus
Feldern, Wäldern und Ortschaften und versank bald erneut in Gedanken.

8
Was hatte Quader mit Vaters Tod zu tun? Vielleicht hing es mit der
Umwandlung der WVA in diese GmbH zusammen? Ich mußte Mutter
unbedingt danach fragen. Dafür würde sich bestimmt Zeit finden, denn ich
hatte vor, einige Tage zu bleiben.
  Inzwischen näherte sich der Zug mit Verspätung dem Hauptbahnhof
von Rostock. Ich hätte wohl doch besser den früheren Zug nehmen sollen.




   Der Platz vor der Trauerhalle war voller Menschen. Als ich das Taxi ver-
ließ, dachte ich: Ob die wohl alle für den Senior...? - Aber sicher finden
hier mehrere Trauerfeiern kurz hintereinander statt, sagte ich mir. Ich
konnte mir nicht vorstellen, daß so viele Leute zur Beerdigung eines Ver-
treters des alten Regimes gekommen sein sollten.
   Meine Schwester und ihr Mann hatten Mutter stützen müssen. Sie
schauten mich mißbilligend an. Dann machte Bernhard seinen Platz an
Mutters Seite für mich frei. Wir betraten die Trauerhalle und setzten uns in
die erste Reihe.
   Vorn stand, praktisch vergraben unter zahllosen Kränzen und Gebinden,
der Sarg. Alles war sehr feierlich. Ich konnte mich einer Träne nicht
erwehren, die ich versuchte durch gesenkten Kopf und zusammengeknif-
fene Augen zu verhindern. Sie tropfte mir dennoch auf das Jackett. Mutter
hatte es bemerkt. Sie drückte mir, ohne aufzublicken meine Hand, in der
die ihre lag und sagte leise zu mir, immerhin einem Mittdreißiger: "Guter
junge." Das hätte mich fast zu weiteren Tränen veranlaßt, die ich nur mit
Mühe verhindern konnte. Ich fühlte mich für einen Augenblick wirklich wie
ein kleiner Junge, der seinen Vater verloren hatte.
   Nachdem die letzten Töne des Largo von Händel verklungen waren,
sprach der Trauerredner über den Verstorbenen, der ein guter Vater und
Ehemann gewesen sei und dessen ganze Hingabe der Naturwissenschaft
gegolten habe, der er, Dr. Dr. Theodor Kaiser, auch beruflich gedient
habe.
   Kein Wort fiel über den Dienst, für den er dreißig Jahre seines Lebens
tätig gewesen war - eben als Wissenschaftler - aber auch als Offizier. Es
war nicht angebracht. Und es war gut so. Es ersparte der Familie Peinlich-
keiten. Obwohl ja kaum jemand anwesend war, der von dieser Tatsache
keine Kenntnis hatte - außer, ja vielleicht außer dem Trauerredner. Aber
selbst das war nicht sicher, denn ich erkannte in ihm einen ehemaligen
Universitätsprofessor für Marxismus-Leninismus, der einmal ein Kollege
meiner Schwester gewesen war. Der mußte halt jetzt auch sein Geld auf
andere Weise verdienen. Und reden hatten solche Leute ja schließlich
gelernt.
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Ich hatte mich umgesehen. Hier wurde kein Geächteter zu Grabe
getragen. Die Trauerhalle war bis auf den letzten Platz besetzt. Verwand-
te, Wohnungs- oder Gartennachbarn, alte Genossen waren gekommen.
Von der letzten Gruppe waren mir einige bekannt.
   Und auch der ehemalige Oberst Quader war zu sehen, wie ich unan-
genehm berührt feststellen mußte. Er saß mit zwei anderen, mir allerdings
unbekannten Männern slawischen Typs, in der letzten Reihe. Ich muß
gestehen, daß mich ein ganz seltsames bedrückendes, fast Angst erzeu-
gendes Gefühl ergriff, als ich ihn sah.
   Nach der Trauerrede ging es hinaus und es formierte sich ein Zug, wel-
cher dem Sarg folgte. Über zunächst breite, durch Koniferen gesäumte
und die Grabreihen trennende, dann enger werdende Wege ging es zu
dem Teil des Friedhofs, in dem die Grabstelle lag.
    Dort angekommen ließ der Trauerredner noch einige Satze über den
Sinn des Lebens und den natürlichen Gang alles Sterblichen hören. Mut-
ter schluchzte auf. Bettina und ich stützten sie. Dann warfen wir jeder drei
Hände voll Erde auf den Sarg.
   Ich wandte mich zur Seite und erblickte am rechten Rand der Trauer-
gemeinde erneut diesen Quader und seine Begleiter. Fast schien es mir,
als ob sie sich vergewissern wollten, daß Vater tatsächlich bestattet
wurde. Als wir die Kondolenzen entgegennahmen, stellte ich fest, daß
Quader nicht unter denen war, die zu uns kamen. Irgendwie war ich
erleichtert.
  Wir verließen den Friedhof und fuhren zu einem Restaurant, wo wir im
größeren Familienkreis gemeinsam zu Mittag aßen. Bald rief ich aber,
Mutters Wunsch entsprechend, ein Taxi und fuhr mit ihr nach Hause. Sie
wollte allein sein, was alle verstanden.
   Ich hatte die ganze Zeit über gemerkt, daß Mutter sehr bedrückt war,
hatte es aber der natürlichen Reaktion auf ihr plötzliches Witwendasein
zugeschrieben. Dennoch beobachtete ich, daß sie, als wir den Friedhof
verließen, ängstlich in Quaders Richtung geblickt hatte. Das erinnerte
mich wieder an ihre Worte am Telefon. Später, als wir in der elterlichen
Wohnung angekommen waren, fragte ich sie: "Mutter, du hast doch
etwas. Was bedrückt dich denn? Es ist doch nicht allein Vaters Tod. Ich
merke doch, daß da noch etwas ist!"
  Sie wehrte ab. Es wäre nichts, wirklich nichts. Es sei einfach die Trauer,
das sei doch wohl verständlich. Allerdings merkte ich an ihrer Stimme und
an der Tatsache, daß sie es dabei vermied, mir in die Augen zu sehen,
daß doch etwas nicht stimmte. Ich ließ nicht locker: "Mir kannst du doch
nichts vormachen. Du hast doch Angst vor irgend etwas. - Und wieso hat
eigentlich dieser Quader Vater so sehr aufgeregt?"



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Als sie den Namen Quader hörte, brach es dann doch aus ihr heraus.
Unter Tränen rief sie, meine Hände ergreifend: "Sie haben ihn umge-
bracht!"
   "Wer hat ihn umgebracht?" fragte ich erschrocken. Ich hatte mit keiner
Silbe damit gerechnet, daß es sich bei Vaters Tod um einen unnatürlichen
Vorgang gehandelt haben könnte. Tausend Gedanken schossen mir plötz-
lich durch den Kopf, ob das wohl stimmte, was Mutter gesagt hatte, was
ich wohl tun mußte, als Sohn und wie gefährlich das Ganze möglicher-
weise für uns, die Überlebenden der Familie war. Es wurde mir wechsel-
weise heiß und kalt und der kalte Schweiß trat mir vor Aufregung auf die
Stirn. Ich sage es ehrlich: Es waren Angst und Wut, die in mir rangen, um
die Oberhand zu gewinnen. Im Moment war die Angst stärker, denn ich
brauchte mein Leben lang keine zu haben. Dieses Gefühl war für mich
also absolut ungewohnt. Aber ich mußte mich zusammenreißen und
Mutter durfte nicht merken, wie es mir ging. Ich mußte den Starken spie-
len, der die Situation überblickte und gekonnt damit umgehen konnte.
   Mutter hatte mir zum Glück meine momentane Schwäche und Ratlo-
sigkeit nicht angesehen. Sie starrte vor sich hin und sagte dann, mir nun
ins Gesicht blickend, leise und mit angsterfüllter Stimme: "Die sind zu
allem fähig. Ich habe Angst, daß sie auch dir etwas antun!"
   "Wer sind die? Und wieso sollten die mir etwas antun?"
   Sie antwortete nicht, hatte wieder den Kopf gesenkt und blickte erneut
vor sich hin. Erst nach längerem Drängen meinerseits entschloß sie sich
dann, mir doch zu sagen, was sich an dem Tag zugetragen hatte, als
Vater den ersten Schlaganfall erlitt.
   Es war am Morgen etwa gegen neun Uhr, als drei Männer Vater auf-
suchten. Einer dieser drei Besucher war Oberst Quader gewesen. Die
anderen beiden kannte sie nicht. Aber sie nahm an, daß es sich um Rus-
sen handelte.
   Zunächst sprach Quader leise, dann wurde er immer lauter. Jedenfalls
hörte Mutter im Nebenzimmer, wie er mehrmals lautstark die Herausgabe
einer Akte forderte. Er bedrängte Vater immer aggressiver werdend.
Daraufhin erregte sich auch Vater. Mutter hörte, wie er immer wieder
bestritt, irgendeine Akte aus der WVA zu besitzen und sich die unver-
schämte Unterstellung und Belästigung verbat.
   Plötzlich brach Vaters Stimme ab und sie hörte einen überrascht und
zugleich verärgert klingenden Aufschrei Quaders. Sie hielt es nebenan
nicht mehr aus, denn sie war voller Angst um ihren Mann. In dem Moment,
als sie das Wohnzimmer betrat, muß es wohl passiert sein.
   Sie erblickte als erstes Quader, der über den zusammengesunkenen
Senior gebeugt stand, ihn betrachtete und dann seinen Begleitern ein Zei-

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chen gab, mit ihm die Wohnung zu verlassen. Im Hinausgehen hatte er
gesagt: "Schlaganfall. Rrufen Arrzt, Frrau Kaiserr." Und fast draußen, Mut-
ter hatte bereits völlig erschrocken und hilflos vor Vater gekniet, da hatte
Quader noch über die Schulter zurückgerufen: "Und kein Worrt zu irr-gend
jemand, daß warren hierr!" Es hatte wie ein Befehl geklungen.
   Vater war mit einem Notarztwagen in ein Krankenhaus gebracht wor-
den. Mutter erfuhr bald, daß er an den Beinen und im Gesicht Lähmungen
erlitten hatte und daß sein Sprachzentrum gestört war. Die Ärzte machten
ihr allerdings Hoffnungen. Das könne sich alles weitgehend normalisieren,
wenn der Patient den nötigen Willen und die Energie aufbrächte, wieder
gesund zu werden. Da hätten sie aber bei ihrem Mann keinerlei
Bedenken, und andere hätten das schließlich auch schon geschafft.
   Nach etwa vierzehn Tagen konnte Vater aus der Klinik entlassen wer-
den. Wie bereits im Krankenhaus, verweigerte er aber auch nun jegliche
Zusammenarbeit mit Logopäden, die ihm helfen wollten, seine Sprache
wiederzuerlangen. Niemand hat das verstehen können.
   Bereits am zweiten Tag nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen
worden war, erschien Quader erneut mit seinen beiden Begleitern. - Als er
merkte, daß mein verängstigt wirkender Vater nicht mehr sprechen
konnte, wurde er noch wütender und nahm statt seiner, Mutter in die
Mangel. Ihr Mann habe eine sehr wichtige Akte mitgenommen, als er aus
der Geschäftsleitung der GmbH ausgeschieden sei. Bestimmt aus Verse-
hen, er wolle ja nicht unterstellen, daß es Absicht gewesen sei. Sicher
wisse sie, wo er die Akte habe.
   Als Mutter dies verneinte, bohrte er weiter, ob es spezielle Plätze gebe,
wo Vater wichtige Dinge aufbewahre. Ob sie einen Safe oder vielleicht ein
Schließfach bei einer Bank oder etwas ähnliches besäßen und so weiter.
Schließlich drohte er ihr mit äußerst unangenehmen Folgen, falls die Akte
nicht wieder auftauche. Er könne die Staatsanwaltschaft veranlassen, eine
Hausdurchsuchung durchzuführen, es könne aber auch Schlimmeres
passieren.
  Wenngleich sie von einem Staatsanwalt nichts zu befürchten hatte, war
ihr doch allein der Gedanke, die Polizei würde in die Wohnung kommen,
schon wegen der Nachbarn unangenehm. Die andere Drohung, es könne
auch "Schlimmeres" passieren, war ihr jedoch noch viel unheimlicher
gewesen. So allein mit einem völlig hilflosen Mann und den unan-
genehmen Besuchern, die sie endlich loswerden wollte, willigte sie
schließlich ein und ging mit Quader zu ihrer Bank, um ihm das Schließfach
zu zeigen.



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Wortlos war Quader gegangen, als er feststellen mußte, daß sich in
 dem Schließfach keine Akte befand, allerdings nicht, ohne ihr mit dro-
 hendem Blick und Unterton gesagt zu haben: "Sehen wiederr uns!"
   Einige Tage später geschah es dann. Mutter war in die Stadt gefahren.
Als sie zurückkam fand sie Vater mit einem zweiten Schlaganfall vor. Er
war aus dem Sessel gerutscht und lag stöhnend auf dem Teppich. Das
Wohnzimmer war in großer Unordnung.
   Sie hatte Vater im Notarztwagen zum Krankenhaus begleitet. Als sie es
erreichten, lebte er aber bereits nicht mehr.
   Später, als sie mit meiner Schwester wieder die Wohnung betrat,
erfaßte sie erst einmal das ganze Ausmaß der Unordnung. Die gesamte
Wohnung war, während sie einkaufte, von oberst zu unterst gekehrt
worden. Es fehlten zwar auch Wertsachen und Geld. Aber sie vermutete
sofort, daß dies nur eine falsche Fährte war, welche die Jäger nach der
Akte gelegt haben mußten.
   Der Senior, der sich weder hatte wehren, noch um Hilfe rufen können,
mußte offensichtlich hilflos mit ansehen, wie seine Wohnung durchwühlt
wurde. Infolge der großen Erregung hatte er dann wohl seinen zweiten
Schlaganfall bekommen. Spuren von Gewaltanwendung waren jedenfalls
bei der Obduktion nicht gefunden worden.
   Die Polizei fand auch keinerlei verwertbare Spuren der Einbrecher,
Fingerabdrücke etc. Da waren Profis am Werk gewesen. Gegenüber der
Polizei, aber auch gegenüber meiner Schwester hatte Mutter Quader und
die Akte jedenfalls nicht erwähnt.
  Ich hatte mich, während Mutter berichtete, wieder völlig gefaßt und
Kampfgeist aktiviert. Ich war empört und voller Wut auf Quader. Ich wollte
ihn unbedingt zur Rede stellen, ich wollte ihn anzeigen, ich wollte ihn
vernichten. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, zu welchen Haßgefühlen ich
fähig war. Mutter bat mich jedoch inständig, eine Konfrontation zu ver-
meiden.
   Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, fragte ich sie, ob sie denn
 Bernhard, ihren Schwiegersohn, über die Ereignisse informiert habe.
   Das habe sie nicht getan, antwortete sie mir und erklärte mir auch, wes-
halb. Der Senior sei, als sie Bernhards Namen nach seinem ersten
Schlaganfall erwähnt habe, sehr unruhig geworden und habe auf ein Blatt
Papier gekritzelt: "Kein Verlaß. Gehört dazu!"
   Mutter sagte mir auch, daß schon eine Woche zuvor ein Gespräch zwi-
schen Vater und Bernhard stattgefunden habe, welches offensichtlich für
beide Seiten nicht erfreulich gewesen sei, denn Bernhard habe sich
mißmutig entfernt und Vater sei ebenso die Verärgerung anzusehen
gewesen, wenngleich er nichts gesagt habe.

                                                                        13
Mein Schwager Bernhard war zu DDR-Zeiten als Major der Kriminal-
polizei tätig gewesen, im Politischen Kommissariat, von dem es nach der
Wende hieß, daß es ein Ableger der Stasi gewesen sei. Der Senior war
immer stolz auf seinen Schwiegersohn und hatte ihn mir oft als Vorbild
hingestellt. Seit der Wende war Bernhard nun Kriminaloberrat, ich glaube
beim LKA.
   Mutter gab mir einen Zettel, der unter der Sitzfläche eines Küchen-
stuhles angebracht war. Als ich verwundert fragte, was das sei, sagte sie
nur: "Von Vater für dich."
   Ich erfuhr von ihr, daß der Senior, als er nach dem ersten Schlaganfall
wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, mühsam etwas auf
diesen Zettel gekritzelt hatte. Ich entzifferte die drei Worte: "Theo, Laube,
Akte". Überrascht und befriedigt registrierte ich, daß er nicht seinem
"Lieblings"-Schwiegersohn, sondern mir, dem "verlorenen Sohn" seine
letzte Nachricht hinterlassen hatte. "Theo, Laube, Akte". Was hieß das?
Die eigene Laube konnte er kaum gemeint haben. Aber plötzlich war mir
klar, wo ich suchen mußte.




  Am nächsten Tag, gleich nach dem Mittagessen, war mein Ziel
Großmutters alte Gartenlaube.
  Als ich mit dem Wagen des Seniors losfuhr, stellte ich fest, daß ein
BMW, besetzt mit vier mir unbekannten Männern, ebenfalls den Parkplatz
verließ. Zunächst war das nichts Ungewöhnliches. Ich merkte aber bald,
daß sie mir folgten. Deshalb beschloß ich, sie auf jeden Fall abzuhängen.
So gut kannte ich Rostock noch, daß ich durch die Benutzung von
Nebenstraßen und indem ich dreist eine Einbahnstraße in der falschen
Richtung befuhr, entkam. Da die Verfolger solches von mir offensichtlich
nicht erwartet hatten, fuhren sie glatt, genau wie ich gehofft hatte, in eine
andere Straße. Ich sah jedenfalls nichts mehr von ihnen.
  In einer Seitenstraße stellte ich den Wagen ab und lief zur nächsten
Straßenbahnhaltestelle. Dort stellte ich mich zwischen andere Wartende
und tat so, als ob ich mich für den Straßenbahnfahrplan und für die Wer-
bung interessierte, damit ich mein Gesicht vor Blicken aus vorbeifahren-
den Pkws verbergen konnte. Zum Glück traf die Bahn bereits zwei Minu-
ten später ein. Drei Stationen weiter stieg ich dann schon wieder aus. Nun
war es nicht mehr weit bis zur Gartenkolonie.
  Ungesehen gelangte ich in den Garten. Den Schlüssel entnahm ich dem
mir bekannten Versteck. Als ich die Tür öffnete, schlug mir ein muffiger
Geruch entgegen, der sich aus der Feuchtigkeit einer ungeheizten

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Laube ergab und natürlich jetzt, nach dem langen Winter, besonders
 intensiv war. Ich versuchte meine Augen an das Halbdunkel zu gewöh-
 nen. Hier hatte sich nichts verändert. Es schien alles in Ordnung zu sein.
    Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, daß sich niemand
dem Garten näherte, begab ich mich zielgerichtet dorthin, wo ich das Ver-
steck vermutete, auf das mich der Zettel des Seniors hingewiesen hatte.
Ich ging in die kleine Küche, in der ein uralter eiserner Herd stand, auf
dem Großmutter immer gekocht hatte. Die letzte Diele unter dem Herd,
ganz hinten an der Wand, war in der Länge von etwa einem knappen
Meter herausnehmbar. Dort hatte Großvater 1945 seine Pistole versteckt.
Irgend jemand hatte ihn bei den Russen angezeigt. Da auf Waffenbesitz
die Todesstrafe stand, lernte ich meinen Großvater nicht mehr kennen.
   Ich legte mich auf die Seite und tastete mit der Hand des
ausgestreckten rechten Armes nach der Diele. Da der Herd ziemlich breit
war und unter ihm wenig Platz, mußte ich mich ganz an den kalten
Fußboden pressen und extrem strecken. Aber es gelang mir,
heranzukommen. Vorsichtig nahm ich das Brett heraus und griff in den
Hohlraum, der sich darunter befand. Tatsächlich - da war etwas. Mein
Herz schlug mir bis zum Hals. Ich mußte den rechten Arm noch mehr
strecken. Stell dich nicht so an, sagte ich mir. Großvater und Vater haben
es ja schließlich auch geschafft und die waren älter als du es jetzt bist. -
Aber vielleicht war es ja leichter, etwas hineinzulegen, als etwas
herauszuholen? Sicher, das mußte es sein.
   Ich zog den Arm zurück, stand auf, streckte mich und rieb mir mein
schmerzendes rechtes Oberarmgelenk. Dann lief ich schnell in den
Wohnraum und spähte aus dem leicht geöffneten Türspalt in den Garten
und zum Weg. Aber draußen war alles ruhig. Es war von Vorteil für mich,
daß man von der Laube aus jede sich nähernde Person bemerken konnte.
Ich schloß die Tür ab und begab mich zurück in die Küche. Erneut ver-
suchte ich es. Diesmal hatte ich mehr Glück. Ich bekam mit Daumen und
Zeigefinger etwas zu greifen und zog es heraus. Dickes braunes Packpa-
pier umhüllte ein flaches Paket. Obwohl es noch nicht allzu lange dort
gelegen haben konnte, war es voller Staub und Spinnweben. Ich fuhr mit
der flachen Linken darüber und öffnete es sofort. Falls es mir meine Ver-
folger auf dem Rückweg abjagen würden, wollte ich wenigstens wissen,
worum es da eigentlich ging. Der Inhalt bestand, wie ich gleich darauf
feststellen konnte, aus einem Ordner. Obenauf lag ein Blatt Papier, auf
welchem in der Schrift des Seniors geschrieben stand: "Mach was draus,
Theo!" Als ich diese Worte las, war ich wieder ganz seltsam berührt. Was
da stand, das war praktisch eines Vaters letzter Auftrag an seinen Sohn,
an mich. Würde ich ihn erfüllen können? Ich schlug den Ordner auf. Auf
der ersten Seite befand sich folgender Text:

                                                                         15
Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik
Staatssekretariat für Sicherheit im Mdl
Geheime Verschlußsache (GVS) SfS im Mdl Nr. 0003-211/55
vom 20.05.1955
Vorgang: Krausinger; Martin, Ludwig,
geb. am 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern
Begonnen: 20. Mai 1955                    Abgeschlossen:

Ich blätterte weiter. Die nächste Seite war ein maschinenschriftliches
Rechercheergebnis.

Aktennotiz

SfS im Mdl Nr. 0003-211.1/55 v. 20.05.1955 Vorgang: Krausinger, Martin,
Ludwig geb. 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern
Blatt 1                                       Berlin, den 20.05.1955
Laut Personalverzeichnis der Heeresversuchsanstalt Peenemünde hat
besagter K. am 24. März 1941 seine Tätigkeit in selbiger Anstalt aufge-
nommen. Verzeichnet im Personalregister als Professor Dr. Martin Ludwig
Krausinger. Kein Hinweis auf eine SS-Zugehörigkeit. Vormalige
Arbeitsstelle: Universität unter den Linden, Reichshauptstadt Berlin. In den
Gehaltslisten letztmalig nachweisbar: Juli 1943. Taucht auch nicht auf in
der Gefallenenliste des britischen Luftangriffes vom 17./18.08. 1943 auf
Peenemünde. Desgleichen auch nicht als Verwundeter auszumachen. Ab
August 1943 wie vom Erdboden verschwunden. Schriebeis, Oberltn. im
SfS

Auf dem folgenden Blatt befand sich lediglich ein kurzer handschriftlicher
Vermerk:

Zielperson befand sich nicht in alliierter Gefangenschaft und ist auch nicht
zu finden auf Gefallenenlisten des Zweiten Weltkrieges. 02. Juni 1955
Siebrecht, Major im SfS

  Ich war enttäuscht. Eine Akte aus 1955! Ich hatte eher angenommen,
daß sich das, was Vater mir hinterlassen hatte, mit der Stasi, nicht aber
mit der Suche nach einem alten Nazi beschäftigen würde. Das war ja wohl
Schnee von gestern. Was sollte ich daraus machen? Aber ich wollte nicht
vorschnell abbrechen. Erst mußte ich mir einen Überblick über die

16
gesamte Akte verschaffen, selbst wenn ich bis spät in die Nacht hinein im
Garten bleiben müßte. Um unangenehmen Überraschungen vorzubeu-
gen, schaute ich erst noch einmal nach, ob die Fensterläden wirklich dicht
waren. Dann vertiefte ich mich in das Material. Ich las einen Zei-
tungsausschnitt, der säuberlich auf ein Blatt Papier geklebt worden war.
  Es handelte sich um einen Artikel aus dem "Wiesbadener Stadtblatt"
vom August 1945.

Alsoss sucht noch immer
Oberursel, Samstag, 18.08.1945, Bericht unseres Korrespondenten Franz
Schulz

Obwohl der Krieg längst beendet ist, sucht die Amerikanische Militärre-
gierung noch immer nach Spitzenkräften der deutschen Raketenfor-
schung. Es wird vermutet, daß diese Forscher in die Vereinigten Staaten
verbracht werden sollen. Etwa einhundert von ihnen sind in Oberursel, im
sogenannten "Camp King" der amerikanischen Militärregierung
untergebracht und werden von Spezialisten verhört. Uns wurde bekannt,
daß einige weitere führende Köpfe der deutschen Raketenforschung,
darunter die Professoren Krausinger und Danzmann noch immer gesucht
werden. Es wird vermutet, daß sie zum Troß des wahrscheinlich nach
Südamerika geflüchteten Reichsleiters Bormann gehören. Es bleibt
abzuwarten, wann und wie die amerikanischen Operationen "Overcast"
und "Paperclip" abgeschlossen werden. Wir berichten darüber.

  Im Unterschied zu den Amerikanern hatte die Stasi offensichtlich bei der
Suche nach Krausinger Erfolg gehabt, wie ich auf den folgenden beiden
Seiten feststellen konnte.

Ministerrat der DDR
Ministerium des Innern (Mdl), Staatssekretariat für Sicherheit
Bezirksverwaltung Schwerin                                   27. Juni 1955
Kreisdienststelle Parchim
Sachbearbeiter: Pieper

Vorgangsübernahme
Betr.: Übernahme eines volkspolizeilichen Vorganges in Verantwortung
des SfS
Vom VPKA Parchim wurde uns mit heutigem Datum die Anzeige eines
Bürgers aus der Volksrepublik Polen zuständigkeitshalber übergeben.

                                                                        17
Am Donnerstag, dem 23. Juni d.J. erschien der polnische Staatsbürger
Jan Zbigniew Kalpuczky, welcher mit einer Delegation der Kommunisti-
schen Partei Polens (PKP) das VEB (K) Bekleidungswerk Parchim-Beils-
dorf besucht hatte, auf dem Volkspolizeikreisamt und erstattete Anzeige
(s. Anlage) gegen einen Werktätigen aus dem besuchten Betrieb, in dem
er einen Raketenforscher der Nazis aus Peenemünde erkannt haben will.
Die Ermittlungen der VP ergaben, daß ein Lagerist namens Walter
Letticher, wh. in Parchim, Walter-Bleibtreu-Straße 97 gemeint war. Der
polnische Genosse hatte nach eigenen Angaben lediglich den Par-
teisekretär des Betriebes erstaunt gefragt, warum denn dieser Mann nicht
mehr in der Wissenschaft tätig sei. Er habe diesen Professor, wie er die
verdächtige Person nannte, in Peenemünde gesehen, als er selbst als
Zwangsarbeiter dort eingesetzt gewesen sei. An den Namen konnte er
sich nicht erinnern. Aber er habe ihn hundertprozentig wiedererkannt. Der
Genosse Parteisekretär (einer unserer IM) habe ihn dann veranlaßt, eine
Anzeige bei der Volkspolizei zu machen.
Meldung an Bezirksverwaltung und an Staatssekretariat, wegen eventu-
eller Nazistraftaten und wegen möglicher Übereinstimmung der Person
Letticher mit dem zur Fahndung ausgeschriebenen Krausinger, Martin,
Ludwig, erfolgte bereits durch mich. Pieper, Oltn.

  Das zweite, als "Vertrauliche Verschlußsache" gekennzeichnete Doku-
ment war ein sogenannter "Operativplan", das heißt der Plan zur Bespit-
zelung dieses Krausinger. Es hatte den gleichen Dokumentenkopf wie das
vorherige Papier und wies das Datum vom 29. Juni 1955 auf.

Operativer Vorgang "Nazi"
1. Operativplan zum Operativen Vorgang "Nazi"
Der OV "Nazi" gegen den Lageristen Letticher, Walter, geb. am
16.06.1903 in Rosenheim/Bayern, wh. Parchim, Walter-Bleibtreu-Str. 97
hat das Ziel, a) abzuklären, ob es sich bei dem zu Observierenden um den
ehemaligen SS-Führer M. L. Krausinger aus München handelt, welche
Verbindungen er pflegt, ob Kontakte, eventuell konspirativer Art, nach
Westdeutschland bestehen sowie b) seine Verhaftung vorzubereiten.
1.1. Einsatz Informeller Mitarbeiter
Der Einsatz der IM ist vorrangig darauf zu richten, den "Nazi" und sein
Umfeld, sowie eventuelle Beziehungen in den westzonalen oder sonstigen
imperialistischen Herrschaftsbereich aufzuklären sowie einen

18
Grund zu finden, den "Nazi" wegen eines kriminellen Straftatbestandes
(Diebstahl o. ä.) belangen zu können.

1.1.1. Informeller Mitarbeiter "Fahrrad"
Für den IM "Fahrrad" wird die Möglichkeit geschaffen, in den unmittel-
baren Arbeitsbereich des "Nazi" zu gelangen. Seine Aufgabe wird vor
allen Dingen darin bestehen, über den "Nazi" persönliche Informationen
zu gewinnen, die Aufschluß über seine Person geben. Verantw. für die
Instruktion und die Führung des IM: Ltn. Drösel

1.1.2. Informeller Mitarbeiter "Sigrid"
Für die Mitarbeiterin "Sigrid" besteht die Möglichkeit, den "Nazi" zu
kontaktieren, da er Stammgast in der Stadtbibliothek ist. Ihre Aufgabe
besteht darin, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen und Infor-
mationen über Absichten, Ziele, Charaktereigenschaften und Schwächen
zu schöpfen. Verantw. für die Instruktion und die Führung des IM: Ultn.
Schmidt

1.2. Koordinierung des Einsatzes der beiden IM Verantwortl.: Oltn. Pieper

2. Koordinierung aller Maßnahmen
Koordinierung aller Maßnahmen erfolgt durch Zentrale Ermittlergruppe
"Nazistraftäter". Meldungen direkt an diese Gruppe; Durchschläge an
Generalmajor Keter, Dienststelle WVA

3. Weitere operative Maßnahmen
Im Moment keine.
Vorlage erarbeitet: Pieper, Oberleutnant

   Dieser Krausinger oder Letticher war also im Zweiten Weltkrieg Rake-
tenforscher gewesen. Das erklärte mir nun allerdings das große Interesse
aller Seiten an ihm. Was war das aber für ein Mensch? Diese Frage wurde
mir durch den in der Akte befindlichen Lebenslauf beantwortet. Es han-
delte sich bei dem Mann, wie ich dort lesen konnte, um einen Naturwis-
senschaftler, der schon vor vielen Jahrzehnten als Forscher und Hoch-
schullehrer tätig gewesen war. Aber er wäre inzwischen bereits über 90
Jahre alt! Wieso bewahrten die eine Akte auf über jemanden, der entwe-
der bereits nicht mehr lebte oder doch zumindest schon bald dreißig Jahre
lang im Rentenalter war? - Oder sollte der auch als Ruheständler für die
gearbeitet haben? Möglich wäre das schon. Aber inzwischen war er doch
sicher längst nicht mehr aktiv. Oder?
                                                                       19
Ich hatte bereits längere Zeit fast ohne Unterbrechung gelesen. Es war
anstrengend bei dem Licht der kleinen Lampe, zumal ich gleichzeitig
darauf bedacht war, mein Gehör darauf zu konzentrieren, ob sich nicht
doch jemand an die Laube heranschlich. Ich blätterte weiter. Auf den fol-
genden Seiten fand ich den Bericht über Krausingers Festnahme und jede
Menge Verhörprotokolle, die ich gespannt las.
  Plötzlich schreckte ich auf und starrte zur Tür. War da etwas? Ich
sprang schnell auf. Die Akte fiel zu Boden. Nachdem ich das Licht
gelöscht hatte, tastete ich mich vorsichtig zum Fenster. Dort zog ich den
Vorhang zurück und spähte durch einen kleinen Spalt des außen ange-
brachten Fensterladens. Draußen war es schon dämmrig. Aber es war
nichts Verdächtiges festzustellen. Ich zog den Vorhang wieder zu, lausch-
te an der Tür und tastete mich im Dunkeln vorsichtig zurück zur Couch.
Dort knipste ich die kleine Lampe wieder an und nahm die Akte vom
Boden. Überrascht hob ich einen darunter liegenden Brief auf, der aus ihr
herausgefallen sein mußte. Auf dem gefalteten Briefbogen erkannte ich
die Handschrift meines Vaters. Es war ein seltsames Gefühl, das mich
ergriff, denn praktisch erhielt ich in dem Moment eine weitere Botschaft
von einem Verstorbenen. Es dauerte sicher ein, zwei Minuten, bis ich
soweit war, daß ich den Brief lesen konnte.

Lieber Theo,
wir haben uns zwar über die Jahre entfernt voneinander, was ich immer
sehr bedauert habe, aber jetzt sind neue Zeiten angebrochen und der
Grund unserer Meinungsverschiedenheiten ist beseitigt. Du bist mein
Sohn und Du bist Journalist. Ich glaube, daß das vorliegende Material für
Dich so interessant sein wird, daß Du damit an die Öffentlichkeit gehen
wirst.
Vielleicht kann ich damit etwas zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei-
tragen und mache damit etwas gut von dem, was ich ja falsch gemacht zu
haben scheine.
Als einer der Geschäftsführer der SHT Warenthin GmbH hatte ich vor
einigen Jahren das ehemalige Dienstzimmer meines früheren Chefs, des
Generals Keter - Du kennst ihn - übernommen. Vor wenigen Monaten, als
ich mein Dienstzimmer räumte, da ich in den Ruhestand ging, fand ich im
untersten Schreibtischfach, ganz nach hinten gerutscht, eine Akte, von der
ich glaubte, es sei eine meiner Akten. Allerdings ist es eine Akte, die der
General, als er das Dienstzimmer 1990 überstürzt räumen mußte,
offensichtlich vergaß.
Mir war der Name Krausinger, der darauf stand, unbekannt. Erst als ich
den Inhalt las, bekam ich mit, daß sie einen Mitarbeiter, der mir persön-

20
lich bekannt war, betraf. Dieser Mann hieß allerdings Dr. Letticher und war
seit undenklichen Zeiten, länger jedenfalls als ich, in der WVA tätig. Wenn
Du Dich mit der Akte beschäftigst, dann wirst Du bald merken, daß es mit
und um diesen Mann herum Geheimnisse geben muß. Mir war das all die
Jahre, die ich ihn kannte, nicht bewußt. Aber nun, wo ich diese Akte
kenne, werden mir einige Ungereimtheiten klar. Ich habe die Akte
mitgenommen. Keter schien sie nicht zu vermissen. Er arbeitete bereits
seit Jahren nicht mehr bei uns. Ich hielt sie für interessant. Inzwischen
weiß ich, daß die Akte nicht lediglich interessant ist, sondern gefährlich.
Ich habe nach meinem Ausscheiden aus der GmbH mehrere Anrufe er-
halten, diese Akte betreffend, wo sie sei, nur ich könne sie haben und so
weiter. Das hat meinen Verdacht, daß da etwas faul ist, nur noch ver-
stärkt.
Vor einer Woche, als ich einen Spaziergang gemacht habe, wurde ich von
zwei Männern angesprochen und bedroht - wegen der Akte! Ich habe
Mutter natürlich nichts davon gesagt. Sie regt sich immer gleich zu sehr
auf, hat einfach Angst. Was man verstehen kann. Ich befürchte, daß diese
Leute nicht nachgeben werden, bis sie die Akte haben. Ich möchte, daß
Du sie Dir ansiehst und recherchierst um möglicherweise Schlimmes zu
verhindern.
Eigentlich möchte ich Dir die Akte persönlich übergeben. Aber man weiß
ja nie, was dazwischen kommt. Vorsichtshalber habe ich sie erst einmal
versteckt.
Dein Vater
PS: Anbei einige Notizen, die meiner Kenntnis entsprechend, Dir helfen
können, einiges in der Akte besser zu verstehen.

  Ich hatte mich ziemlich gewundert, daß der Senior doch noch eine
Wende in seinen Ansichten vollzogen haben sollte. Ich glaube aber, es
war nicht ein Bruch mit seinen grundlegenden Überzeugungen, sondern
mehr ein Bruch mit Extremisten unter seinen ehemaligen Genossen.
  Dieser Brief aber, der mir helfen sollte, die Akte zu verstehen, ließ be-
dauerlicherweise weit mehr Fragen offen, als er beantwortet hatte. Of-
fensichtlich wußte der Senior auch nichts Genaues, ahnte mehr, als er
wußte. Wie sollte nun ich, der ich dieser Sache und diesen Leuten, um die
es ging, doch unendlich ferner stand als er, klären, was dahinter steckte?
  Der Senior hatte auch Blätter mit Notizen über seine Zeit in der WVA
und sein Wissen über Keter und diesen Krausinger alias Letticher beige-
legt. Damit konnte ich mich aber nicht mehr befassen, denn es war spät

                                                                       21
geworden und ich mußte mich auf den Heimweg machen. Sicher machte
sich Mutter auch schon Gedanken darüber, wo ich so lange blieb. Aber
wohin mit der Akte? Ich konnte sie ja nicht einfach mit zu ihr nehmen. Es
war schließlich gefährlich, sie zu besitzen.
   Dann hatte ich eine Idee. Sie mußte von einer Vertrauensperson an
eine Adresse gesendet werden, die der anderen Seite nicht bekannt war.
Schnell packte ich alles zusammen, schaute mich noch einmal um, lösch-
te das Licht und schloß die Laube ab. Vorsichtig verließ ich den Garten.
Es war bereits dunkel. Alles war still. Meine Verfolger schienen zu meinem
Glück tatsächlich keine Ahnung von diesem Grundstück zu haben.
  Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle winkte ich ein Taxi und ließ
mich vor dem Haus meiner Tante absetzen. Es war etwa 20.00 Uhr, als
ich bei ihr klingelte. Tante Traudchen freute sich über meinen Besuch.
Bevor ich mich eine Stunde später von ihr verabschiedete, bat ich sie, am
nächsten Tag ein Paket für mich aufzugeben. Ich schrieb ihr die Adresse
von Meike, meiner Freundin, auf. Als Absender konnte sie ruhig ihre
eigene Adresse angeben. Nun konnte ich einigermaßen sicher sein, daß
das Paket gut nach Kassel kommen würde.
   Ich rief auch gleich bei Meike an und bat sie, ein in den nächsten Tagen
eintreffendes Paket von einer Frau Waltraud Freudenberg ungeöffnet für
mich aufzubewahren.
   Mit einem Taxi gelangte ich dann zur Wohnung meiner Eltern. Ich wollte
an diesem Abend natürlich auf keinen Fall zu dem in der Stadt abge-
stellten Wagen, da ich befürchtete, daß er entdeckt worden war und man
dort auf mich wartete.
  Später, als ich in Mutters Gästezimmer lag und nicht gleich einschlafen
konnte, ging mir die Geheimakte erneut durch den Kopf. Ich hatte ja darin
gelesen, daß dieser Krausinger erst viele Jahre nach dem Kriege von der
Stasi entdeckt und festgenommen worden war. Wo er sich all die Jahre
aufgehalten hatte und wie es ihm gelungen war, in der DDR unerkannt zu
leben, hoffte ich später noch zu lesen. Ich hatte aber auch geglaubt
Informationen zu finden über General Keter, den Mann, der verantwortlich
war für die Akte und möglicherweise sogar für Vaters Tod. War er es, der
ihm diese Leute auf den Hals gehetzt hatte? War er es, der jetzt auch
mich verfolgen und beobachten ließ? Weshalb war er nicht zur
Beerdigung erschienen? Oder lebte er vielleicht auch nicht mehr?
   Im Gegensatz zu diesem Krausinger, der mir völlig unbekannt war,
kannte ich den General persönlich von der erwähnten Geburtstagsfeier.
Ich erinnerte mich an einen großen, kräftigen Mann mit militärisch kurzem
Haarschnitt, einem ausdrucksvollen breiten Gesicht und einer dröhnenden
Stimme. Ein Mann mit durchaus charismatischer Ausstrahlung.

22
Es mußte mir gelingen, an die Personalien Keters heranzukommen.
Aber wie? Mir wurde klar, daß das, wenn überhaupt, dann nur in Berlin
gelingen könnte, denn die WVA unterstand zu DDR-Zeiten direkt einem
der Stellvertreter des Ministers. So entschloß ich mich, auf dem Rückweg
nach Kassel über Berlin zu fahren.
   Am nächsten Morgen erklärte ich Mutter, daß ich Vaters Erwartung
gemäß etwas tun wolle: "Dieser Quader kommt mir nicht so einfach
davon!"
   Sie war erschrocken und versuchte mich erneut davon abzuhalten. "Das
bringt uns doch Vater auch nicht wieder und du begibst dich unnötig in
Gefahr", warnte sie mich eindringlich.
  Ich versicherte ihr, daß ich nicht als ein Robin Hood losziehen wolle,
sondern das Ganze journalistisch zu lösen gedächte. Damit konnte ich sie
etwas beruhigen. Sie war enttäuscht, als ich meine noch am selben Tage
vorgesehene Abreise erwähnte. Ich versprach ihr aber, sie bald wieder zu
besuchen, was ihr den Abschied etwas erleichterte. Nach dem Frühstück
fuhr ich in die Innenstadt, wo ich den am Vorabend geparkten Wagen
abholte und nach einem kurzen Besuch bei meiner Schwester wieder auf
den Parkplatz vor Mutters Haus stellte.
  Als ich mich von meiner Schwester Bettina verabschiedete, hatte ich
meinen Schwager Bernhard angetroffen. Ich sagte ihm, daß ich verfolgt
worden war. Überraschenderweise fragte er mich aber nicht etwa nach
den Umständen der Verfolgung, sondern meinte sofort, kaum daß ich
ausgeredet hatte: "Ach, das bildest du dir doch bloß ein! - Und außerdem,
wenn schon, die sind an der Akte interessiert, die sie vom Senior haben
wollten. Ist doch klar. Die gehört schließlich ihnen. Ich weiß auch nicht,
was sich dein Vater dabei gedacht hat!" Die letzten Worte klangen
vorwurfsvoll und er hatte mißbilligend den Kopf geschüttelt. Er gab sich
nicht die geringste Mühe, mich in dem Glauben zu lassen, er wisse nichts
von einer Akte und ich staunte über die Dreistigkeit, mit der er, auf meine
Antwort lauernd, fragte: "Äh, hast du vielleicht diese Akte gesehen?"
   Ich hatte mich aber nicht verraten und sofort Empörung geheuchelt:
"Was denn nur für eine Akte? Von einer Akte weiß ich nichts. Also ehrlich
ich weiß überhaupt nicht, was die von mir wollen!"
  Bernhard harte mich mißtrauisch angesehen, aber nicht geantwortet.
Dann war ich gegangen. Wieder in Mutters Wohnung, blieb mir nur noch
eine halbe Stunde, bis ich endgültig gehen mußte. Mutter hatte meinen
Koffer bereits gepackt, so wie in alten Zeiten, wenn ich zum Studienort
fuhr. Bald war auch das Taxi da, welches mich zum Hauptbahnhof brach-
te.



                                                                        23
Ich vermutete, daß ich möglicherweise wieder beobachtet und verfolgt
werden würde. Eventuelle Verfolger wollte ich täuschen und abhängen.
Pünktlich um 11.58 Uhr stieg ich deshalb in den Zug nach Hannover über
Lübeck, obwohl ich ja beabsichtigte, direkt nach Berlin zu fahren. Ich lief
durch zwei Waggons und verließ den Zug wieder auf der dem Bahnsteig
abgewandten Seite, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß mir
niemand gefolgt war. Rasch lief ich über das Gleis zum Nachbar-
bahnsteig. Dort setzte ich mich in den Personenzug nach Güstrow. Ich
wußte aus dem Fahrplan, wann ich ihn wieder verlassen mußte. Durch
das Fenster sah ich den anderen Zug, den ich nur kurz betreten und
schnell wieder verlassen hatte, Minuten später abfahren.
  Auf dem Bahnsteig, waren nur wenige, mir unverdächtig erscheinende
Personen zu sehen. Dennoch wartete ich in dem sich langsam füllenden
Zug. Wenige Minuten vor seiner offiziellen Abfahrzeit wechselte ich meine
Wendejacke schnell von gelb auf blau. Über den braunen Koffer zog ich
eine große gelbe Plastiktüte von Mutters letztem Bettenkauf. Schließlich
setzte ich eine Baskenmütze auf, die ich bis dahin in der Tasche gehabt
hatte. Derart verändert wagte ich mich auf den Bahnsteig. Da ich noch
zwanzig Minuten auf den Zug nach Berlin würde warten müssen, wollte
ich nicht wie auf dem Präsentierteller stehen. Deshalb begab ich mich in
die Herrentoilette und stellte mich samt Koffer in eine der Kabinen. Vor
lauter Langeweile studierte ich die dummen, humorvollen oder perversen
Inschriften, die mit Bleistift, Kugelschreiber oder Messern an den Wänden
von den Vorbenutzern hinterlassen worden waren.
   Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß ich noch zehn Minuten ausharren
mußte. Es ist ja kaum zu glauben, wie lang ein paar Minuten werden kön-
nen! Plötzlich ging mir durch den Kopf: Was würden die machen, wenn die
mich erwischten? Würden sie mir nur das Gepäck entreißen, glaubend,
die Akte wäre darin? Oder würden sie mich zusammenschlagen -als
Warnung? Oder würden die gar so kaltblütig sein, mich ganz auszu-
schalten? Könnte ich hier überhaupt Hilfe erwarten? Würde Polizei kom-
men? Rechtzeitig?
  Ich wähnte mich in einer Falle sitzend. Ich versuchte die unangenehmen
Gedanken zu verdrängen, zu ignorieren. Doch sie kamen immer wieder.
Aber ich mußte ausharren. Wenn sie mich wirklich verfolgten und wußten
im Moment nicht, wo ich war, so war ich hier noch am sichersten, denn
wenn ich mich längere Zeit auf dem Bahnsteig aufhielte, würden sie mich
vielleicht erkennen.
   Dann war es endlich soweit. Der Zug nach Berlin würde in drei Minuten
den Bahnhof verlassen. Daß er eingefahren war, hatte ich bereits über die
Lautsprecheransage gehört. Ich verließ die Toilette und lief durch die

24
Unterführung hinüber zu dem Bahnsteig, auf dem der Zug abfahrbereit
stand. In normalem Tempo ging ich dann an dem Zug entlang, da ich nicht
auffallen wollte. Ich bestieg den Intercity und suchte mir einen Platz in
einem leeren Sechserabteil. Ich hatte gerade mein Gepäck verstaut, da
hörte ich bereits den Pfiff der Bahnsteigaufsicht und der Zug ruckte an.
Wenige Minuten später war er bereits außerhalb des Bahnhofs in voller
Fahrt und bewegte sich in Richtung Neubrandenburgs, seines nächsten
Zieles. Sicher konnte ich nicht sein, daß keine Verfolger im Zug waren.
Aber ich hatte alles versucht, sie abzuhängen.
   Ich versuchte das Wochenmagazin zu lesen, welches ich mir schon in
Kassel gekauft hatte, denn ich wollte mich einmal völlig ablenken von der
Akte. Aber es gelang mir nur schlecht. Immer wieder mußte ich an den
Inhalt dieser Akte denken. Es war mir unverständlich, weshalb meine
Eltern wegen dieses mir trotz der Aufschrift "Geheime Verschlußsache"
nicht unbedingt brisant erscheinenden Materials unter Druck gesetzt
worden waren und weshalb man wahrscheinlich auch mich beobachtete.
   Eine Stunde später hatte der Zug Neubrandenburg erreicht. Unter den
zahlreichen Menschen auf dem Bahnsteig fiel mir ein Mann besonders
auf, der ein Foto in der Hand zu halten schien. Er schaute noch einmal
darauf und steckte es dann in die Manteltasche. Dann stieg er in den
nächsten Waggon ein.
  Als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, erschien der Mann wenig
später und sah sich die männlichen Fahrgäste genau an, während er den
Gang entlangkam. Als er mich bemerkte, glaubte ich millisekundenlang
ein Erkennen in seinen Augen gesehen zu haben und einen befriedigten
Gesichtsausdruck, der zu den Worten gepaßt hätte: "Hab ich dich also."
Unbewegten Gesichtes ging er an meinem Platz vorbei in den nächsten
Waggon.
  Waren es meine überreizten Nerven, oder war das tatsächlich ein Ver-
folger? Ich sah den Mann später nicht wieder. Was allerdings nichts
heißen mußte. Der hatte mich vielleicht schon längst wieder an einen
anderen Beschatter übergeben. Ich versuchte, nicht weiter daran zu den-
ken, da mich das ziemlich verunsicherte.




  Als ich im Hauptbahnhof von Berlin den Zug verließ, fiel mir niemand
auf, den ich als einen Verfolger eingestuft hätte. Ich war erleichtert, aber
es war mir klar, daß ich nicht sicher sein konnte.



                                                                         25
Nicht weit vom Bahnhof entfernt fand ich ein Hotel. Das Erste, was ich
tat, als ich das Zimmer bezogen hatte, war ein Anruf in meiner Kasseler
Redaktion. Ich informierte den Chefredakteur, daß ich dringend einen Re-
chercheauftrag mit Stempel und Unterschrift benötigte für eine interes-
sante Geschichte, der ich auf der Spur sei. "Wie lange brauchst du dafür,
Klaus? Ich möchte mir das Fax abrufen. Ich habe meine Gründe dafür."
Mußte ja im Hotel nicht unbedingt bekannt werden, was ich vorhatte.
  Gut eineinhalb Stunden später, ich hatte inzwischen im Hotel zu Mittag
gegessen und mich dann auf die Suche gemacht, fand ich eine Telefon-
zelle mit Faxgerät. Mit dem Fax aus der Redaktion hielt ich nun etwas
Offizielles in Händen, das mir meine Aufgabe leicht machen würde,
glaubte ich. Ich machte mich sofort auf den Weg zu der Behörde, welche
die Akten der Stasi verwaltete. Bei der Anmeldung legte ich meinen Pres-
seausweis vor und den Rechercheauftrag. Ich bekam ein Formular herü-
bergereicht, das ich im Warteraum ausfüllte.
  Als ich den ausgefüllten Antrag vorlegte, sagte mir der Mitarbeiter der
Behörde, daß ich in etwa drei Monaten damit rechnen könne, einen Ter-
min für den Lesesaal zu bekommen. Ich dachte, ich hörte nicht richtig.
Empört wies ich darauf hin, daß ich die Informationen schnellstens be-
nötigte, weil wir den Bericht nicht erst nach dem Jahre 2000 senden woll-
ten.
  Da könne er nichts machen, sagte der Mann, der die Anträge entgegen-
nahm, das sei halt so und nur, wenn ich über eine Sondergenehmigung
verfügte, könne ich auf einen früheren Termin hoffen, schließlich warteten
ja Hunderttausende auf Einsicht in Ihre Akten und man sei ja in erster
Linie für die betroffenen Bürger da und nicht für die Medien.
  Verdammt, dachte ich. So schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ich
verließ die Räume der Behörde und begab mich zurück zum Hotel.
Unterwegs verfluchte ich die Umstände und suchte krampfhaft nach einer
Lösung. Das Wort "Sondergenehmigung" spukte in meinem Kopf. Woher
nur nehmen? Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich ja möglicherweise doch
noch einen Joker im Ärmel hatte. Ein Jahr zuvor hatte ein
Absolvententreffen der Journalistischen Fakultät an der Leipziger Uni
stattgefunden. Mein Jahrgang hatte sich getroffen und dabei hatte ich
auch Hansi Hecht wiedergesehen, mit dem ich zur Zeit meines Studiums
in einer Seminargruppe gewesen war und in einer Studentenbude
gewohnt hatte.
  Hans-Joachim Hecht, der in der Redaktion des "Neuen Deutschland"
sein Volontariat gemacht hatte und nach dem Studium Redakteur bei der
Armeezeitung "Nationale Volksarmee" geworden war, hatte ganz groß
Karriere gemacht. Er war Sozialdemokrat geworden und leitete nun in

26
Stellvertretung eine Abteilung des Presse- und Informationsamtes der
Landesregierung.
  In meinem Hotelzimmer angekommen, suchte ich sofort seine Telefon-
nummer heraus und rief ihn an. Ich hatte großes Glück, denn er war gleich
selbst am Apparat. Wir verabredeten uns für den Folgetag.




   Hansi, recht dick geworden, wie ich still registrierte, schütteres dunkel-
blondes Haar mit leicht angegrauten Schläfen, einen großen Kopf auf
einem kurzen Hals, hineingezwängt in ein etwas zu enges Sakko, das al-
lerdings stoffmäßig vom Feinsten war, saß schon an einem der Tische, als
ich am nächsten Tag das Restaurant betrat, in dem wir uns verabredet
hatten. Nach der freudigen Begrüßung, unterhielten wir uns zunächst über
Privates. Hansi fragte mich auch, ob ich eine Unterkunft hätte und ich
nannte ihm das Hotel, in dem ich abgestiegen war. "Hättest sonst bei mir
wohnen können", meinte er. Er war schon immer recht unkompliziert.
   "Vielen Dank, Hansi. Das ist sehr nett. - Übrigens bin ich nicht einfach
auf der Durchreise in Berlin abgestiegen, sondern ich habe hier auch
dienstlich zu tun. Ich recherchiere für einen Bericht."
   Hansi zeigte sich interessiert. Er war ja schließlich auch vom Fach.
"Worum geht's denn?"
   "Ich will über die Generale der Staatssicherheit schreiben, über ihre
Vergangenheit und was sie heute so tun."
  "Was, über die Stasigenerale?" Hansi riß, wie mir schien, betont über-
rascht die Augen auf. "Theo! Wir haben 1995! Meinst du, daß dieses
Thema noch jemanden interessiert?" Er hatte zweifelnd die Augenbrauen
hochgezogen, die Lippen vorgeschoben und schüttelte nun bedächtig den
Kopf.
  Hansi mußte ja nicht die ganze Wahrheit wissen. Die hatte er von mir
schon zu DDR-Zeiten, als wir eine gemeinsame Studentenbude bewohn-
ten, nicht immer erfahren. Ein guter Kumpel war er mir gegenüber stets
gewesen. Das mußte man ihm lassen. Aber er war im Gegensatz zu mir
als Parteilosem stets auch ein eifriger Genosse. In unserer Sektion
Journalismus war er sogar Studentenvertreter in der Parteileitung. Ich
erinnere mich, wie er einmal einen Kommilitonen bei der Parteileitung
wegen irgendeiner Verfehlung verpfiffen hatte und dies mir gegenüber
legitimieren wollte, indem er meinte: "Ich will ihm ja nichts Schlechtes,
aber melden muß ich ihn, schon um ihm zu helfen." Mich daran erinnernd
sagte ich: "Ach weißt du, mein Chefredakteur hat sich das vorgenommen
und ich muß die Arbeit machen. Kennst das ja. Jetzt habe ich nun ein
Problem

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bei der Behörde, die die Akten verwaltet. Ich soll drei Monate warten. Aber
der Bericht muß in zwei Wochen bereits gesendet werden. Nur mit
Sondergenehmigung geht es angeblich schneller."
   Hansi sah mich nachdenklich an. Nach einer kurzen Pause meinte er
dann aber: "Na gut, wenn Ihr das wirklich machen wollt." Er schien nun
meine Absicht zu akzeptieren und war sogar bereit, mir zu helfen. "Da
helfe ich dir. Das ist kein Problem für mich. - Interessieren dich da ganz
bestimmte Generale?" Dabei betrachtete er mich, wie mir schien sehr
aufmerksam.
   Vorsicht, sagte mir, für mich überraschend, eine innere Stimme, Vor-
sicht! In dieser Sache kann man keinem trauen! "Ach wo. Ich kenne doch
keinen von denen. Ist mir eigentlich egal, wessen Unterlagen die mir zei-
gen. Aber ein paar brauche ich schon. Damit ich Substanz habe, für die
Sendung. Du weißt schon!"
   Hansi schien zufrieden mit der Antwort. "Weißt du, komm einfach mit.
Mein Amt ist nicht weit von hier. Mein Wagen steht vor der Tür. Ich lasse
dir die Genehmigung ausfertigen."
   Dreißig Minuten später hielt ich tatsächlich eine solche Sondergeneh-
migung in Händen. Meinen Dank beantwortete Hansi: "Ja, wozu hat man
denn Freunde, Theo?" Und er setzte hinzu: "Um der guten alten Zeiten
willen!" Dabei lächelte er mir, die Aussage bestärkend, mit dem Kopf
nickend zu.
   Noch am gleichen Nachmittag legte ich in der Behörde das neue Papier
auf den Tisch. "Gut", sagte der Mitarbeiter und fügte hinzu: "In zwei
Wochen."
   Ich glaubte wiederum nicht recht gehört zu haben. Zwei Wochen? Ich
arbeitete mit allen Mitteln, ich bat, ich drohte, ich appellierte an die Ein-
sicht, bis ich den Mann, der nun glaubte, in wenigen Tagen sei bereits
Sendung über das Thema und wahrscheinlich einfach Mitleid für mich
empfand, dann doch so weit hatte, daß er sagte: "Gut. Kommen Sie über-
morgen wieder. Ab neun Uhr liegt das Material für Sie bereit. - Eins noch:
Es gab ja, wie Sie sicher wissen, eine Menge Generale bei der Stasi, wür-
den Ihnen die Unterlagen von etwa zehn dieser Leute reichen? - Und
haben Sie spezielle Wünsche?"
   "ja, zehn reichen. Wissen Sie, welche das sind, das ist mir eigentlich
egal, aber ich benötige unbedingt auch Material über den General Keter,
Fritz Keter." Das war aber ein großer Fehler, wie ich später noch merken
sollte.
   Der Mann sah mich mit einem mal mißtrauisch an. "Keter? Kenne ich
nicht. Was haben Sie denn speziell mit dem vor?"



28
Mir wurde schlagartig klar, daß ich die Auswahl der Generale praktisch
 der Behörde überlassen hatte und einzig Keter namentlich erwähnt hatte.
 Wie dumm von mir. Schnell erwiderte ich: "Ich habe den Namen mal
 gelesen. Ich glaube der war mehr so ein Techniker, kein operativer Gene-
 ral. Den brauche ich, damit die Sendung nicht so einseitig ausfällt, ver-
 stehen Sie?"
   Ich hatte den Eindruck, daß der Mann damit zufrieden war. Er notierte
 sich den Namen Keter und ich verließ das Gebäude. An diesem Tag
 nahm ich mir nichts weiter vor und begab mich zurück in das Hotel. Ich
 schaute mir eine TV-Sendung nach der anderen an, denn ich wollte mich
 gedanklich einmal überhaupt nicht mit der Akte beschäftigen. Nach dem
 Abendessen im Hotelrestaurant legte ich mich dann auch bald schlafen.
   Am nächsten Tag bummelte ich durch Berlin, denn ich hatte ja nun
 unfreiwillige Wartezeit. Als ich dann abends zum Hotel zurückkam und
 das Foyer betrat, bemerkte ich zwei Männer, die in einer Sitzgruppe
 gegenüber dem Empfang saßen und jeden, der das Hotel betrat, aufmerk-
 sam beobachteten, so auch mich.
   Ein Blick zum Portier zeigte mir, daß dieser gerade den beiden Männern
 unauffällig, wie er sicher glaubte, zunickte. Die warteten also auf mich. Da
 waren sie also wieder - die Verfolger.
   Ich ließ mir den Schlüssel geben, fragte, ob es für mich eine Nachricht
gebe oder ob jemand nach mir gefragt habe, was bezeichnenderweise
verneint wurde, und begab mich auf mein Zimmer. Sofort als ich den
Raum betrat, sah ich, daß er durchwühlt worden war. Mein Koffer, das
Bett, die Sachen, die im Schrank hingen, einfach alles, selbst meine
Badetasche.
   Sie suchten nach der Akte. Das war offensichtlich. Wie konnte ich so
naiv sein, zu glauben, daß sie mir nicht mehr auf der Spur waren? Aber
ich hatte ja niemanden bemerkt, als ich vom Hauptbahnhof zu diesem
Hotel gelaufen war. Ich war mir da ziemlich sicher gewesen, daß mir nie-
mand gefolgt sein konnte. Wie waren die dann aber auf meine Spur ge-
kommen? Da wurde es mir schlagartig klar: Die Behörde! Ich hatte ja dort
ausdrücklich Keters Akte verlangt! Und dieser Name mußte eine Art Sig-
nalwirkung haben! Irgend jemand dort hatte die Leute informiert, die mich
beobachteten. Verdammt! Was sollte ich machen? Polizei? Nein. Das
brächte ja auch nur Unannehmlichkeiten und würde mir nicht helfen.
   Ich suchte nach einer Wanze, die ich aber, falls überhaupt eine da war,
ungeübt in solchen Dingen, nicht fand, und schaute mir dann, nachdem
ich aufgeräumt hatte, als sei nichts geschehen, einen Fernsehfilm an.
Später legte ich mich angezogen auf das Bett, nicht ohne vorher einen
Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke der bereits doppelt
abgeschlossenen

                                                                          29
Tür geklemmt zu haben, denn nun befürchtete ich einen nächtlichen
Überfall. Ich mußte nun mit allem rechnen. Ich hatte mir vorgenommen,
nur zu ruhen, aber ich schlief ein. Aber es passierte zum Glück nichts.
   Am nächsten Tag stand ich um neun Uhr in der Behörde vor dem
Schreibtisch des für mein Anliegen Verantwortlichen. Bis zum Tor hatten
mich in diskretem Abstand aber unübersehbar - sollte wohl eine Drohung
sein - zwei Männer begleitet, die im Hotelfoyer bereits auf mich gewartet
hatten.
   Ich erhielt einen Platz in einem Leseraum zugewiesen und man brachte
mir eine Art Teewagen voller Akten. Alles Akten von Generalen. Leider
war aber ausgerechnet die von Keter nicht dabei, wie ich schnell feststell-
te. Ich ging zur Aufsicht des Leseraumes und fragte nach der Akte Keter.
   "Keter harn wir nich", sagte die ältere Frau im blauen Kittel und drehte
sich zur anderen Seite, Geschäftigkeit vortäuschend.
   "Hören Sie! Sie wollen mir doch wohl nicht etwa erzählen, Sie hätten die
Unterlagen von allen Generalen, nur von einem nicht?" Das fing ja schon
gut an. War diese Frau einfach zu faul nachzuschauen oder war das
Absicht, mir diese Akte nicht geben zu wollen?
   "Harn wir nich", antwortete die Frau wie ein Roboter und blätterte, ohne
mich eines Blickes zu würdigen weiter in irgendwelchen Unterlagen. Und
das sagte mir, daß sie gar nicht mit mir reden wollte. Die hatte einen
Auftrag. Hielten die mich hier für dumm? Glaubten die, mich so leicht
abwimmeln zu können?
   "Führen Sie mich bitte zu Ihrem Vorgesetzten."
   "Is nich da." Sie beachtete mich immer noch nicht und beschäftigte sich
weiter mit dem Material, das sie auf einer Ablage liegen hatte.
   "Dann zum nächsthöheren Vorgesetzten."
   "Na, wenn Se det unbedingt wollen. Kommen Se." Die Frau ging ohne
sichtliche Eile, den Kopf über so viel Penetranz meinerseits schüttelnd,
voran und klopfte an einer Tür im nächsten Gang. "Der Bürger hier will Se
sprechen", sagte sie zu dem Mann im mittleren Alter, der hinter einem
Schreibtisch saß, indem sie auf mich zeigte.
  "Setzen Sie sich bitte", sagte der Mann, seinen Krawatten knoten
festziehend und sich von seinem Platz erhebend zu mir und wies auf den
Besucherstuhl. "Was kann ich für Sie tun?" fragte er, sich dabei setzend,
in freundlichem zu jeder Gefälligkeit bereit scheinendem Ton.
   "Ich habe eine Sondergenehmigung wegen eines journalistischen Pro-
jektes über Generale des MfS. Die Unterlagen eines der Generale will
man mir offensichtlich vorenthalten."
   "Vorenthalten?" Der Mann verzog, als könne er sich das nicht vorstellen,
das Gesicht. "Wo Sie doch eine Sondergenehmigung haben, wie Sie

30
sagen? Das glaube ich nicht. Entschuldigen Sie bitte, falls unsere Mitar-
beiterin sich etwas unfreundlich verhalten haben sollte, sie ist sicher
überlastet. Der große Andrang im Haus. Sie verstehen?" Als er meinen
regungslosen Gesichtsausdruck bemerkte, fragte er schnell: "Aber wes-
halb sollte Ihnen gerade von einem einzigen General etwas vorenthalten
werden? - Um wen handelt es sich denn bitte?"
   "Keter. General Keter."
   "Keter? Hm." Der Mann schien zu überlegen, brach aber schnell den
offensichtlichen Versuch ab, Keter als einen der Generale zu identifizie-
ren, deren Namen ihm geläufig waren. "Wissen Sie, das MfS hatte zuletzt
50 Generale gleichzeitig. Ich selbst kenne deren Namen natürlich nicht
alle auswendig. - Aber ein besonders bekannter und in der Hierarchie
oben angesiedelter scheint der ja nicht gewesen zu sein. - Weshalb beste-
hen Sie denn eigentlich gerade auf den Unterlagen von diesem General ...
wie hieß er gleich noch mal ... Peter?"
   "Keter".
   "Gut, dann eben Keter. - Wir können Ihnen jede Menge Akten geben.
Warum aber gerade die von dem?" Er sah mich dabei, wie mir schien,
lauernd an. Und ich glaubte trotz der freundlich gestellten Frage Tücke zu
hören. "Haben Sie die Akte Keter nun für mich oder... oder muß ich erst
von journalistischen Mitteln Gebrauch machen?"
   Das saß. Der Mann, schlagartig bar jeden Lächelns, sah mich beleidigt
an, griff nach dem Telefon und sagte nachdrücklich: "Die Akte Keter bitte
auf den Arbeitstisch unseres Besuchers ... Wie war gleich Ihr Name? ...
unseres Besuchers Herrn Kaiser." Er hatte aufgelegt und sah mich Dank
heischend an.
   Vielleicht war ich ungerecht. Aber ich war wütend. Ich sagte nur: "Na
also, es geht doch. Warum dann das Theater?" Ohne Gruß verließ ich den
Raum.
  Als ich an meinen Tisch zurückkam, wurde gerade von einer anderen
Mitarbeiterin der Behörde die Akte Keter gebracht. Ich machte mir Notizen
daraus und zum Schein dann auch welche aus anderen Generalsakten.
Da ich aber meine Zeit nicht vergeuden wollte und außerdem zu Recht
annehmen konnte, daß meine wahren Absichten längst bekannt waren,
konzentrierte ich mich bald wieder auf Keters Akte.
  Am späten Nachmittag verließ ich mit umfangreichen Notizen die
Behörde und begab mich, gefolgt von zwei neuen unerwünschten Beglei-
tern, zurück in mein Hotel.
   Ich hatte nicht vor, noch an diesem Tag weiter zu fahren. Ich mußte erst
einmal gedanklich verarbeiten, was ich über Keter erfahren hatte. Nach-
dem ich im Hotelrestaurant zu Abend gegessen hatte, rief ich deshalb von

                                                                        31
meinem Zimmer aus den Bahnhof an und erkundigte mich nach der gün-
stigsten Zugverbindung nach Kassel für den folgenden Vormittag. Es war
mir egal, ob das Telefon abgehört wurde oder nicht. Daß ich in Kassel
wohnte und nach dort fahren würde, das wußten die sicher längst. Ich
mußte dann nur am nächsten Tag in Kassel aufpassen, daß mir niemand
folgte, wenn ich zu Meike fahren würde, bei der sich ja inzwischen die
Akte befand.
   Ich las meine Aufzeichnungen noch einmal durch. Da waren Beurtei-
lungen und verschiedene andere Papiere und da war der Lebenslauf
Keters. Ich hatte ihn mir auszugsweise abgeschrieben. Ich hatte gehofft,
durch die Einsicht in Keters Akte neue Informationen über ihn zu erhalten,
die mir helfen sollten, die Hintergründe besser zu verstehen. Leider war
das nicht so. Der Lebenslauf war nicht überraschend. Es war der Ent-
wicklungsweg eines kommunistischen Funktionärs vom alten Schlage.
Auch die Informationen über seine Tätigkeit als Chef der WVA brachten
leider nichts wesentlich Neues.
   Bevor ich mich auf das Bett legte, klemmte ich wieder die Lehne eines
Stuhles unter die Zimmertür. Ich verschloß die Fenster, und versuchte
wach zu bleiben. Irgendwann in dieser Nacht schlief ich ein.

   Warenthin, Frühjahr/Sommer 1955. Im Dienstzimmer des Leiters der im
April 1955 gegründeten WVA Warenthin brannte auch an diesem
Maiabend um 23.00 Uhr noch immer Licht. Ein kräftig gebauter Vierziger
in Uniform, mit den Schulterstücken eines Generalmajors und mit
militärisch kurzem Haarschnitt, saß hinter einem schweren Schreibtisch.
Vor ihm lagen Listen mit Namen von Wissenschaftlern und Technikern
aus zivilen Bereichen der DDR, die er für die WVA gewinnen wollte. Er
hatte aber außerdem vor, nach verschollenen Waffenforschern des Dritten
Reiches zu suchen. Er war sich ziemlich sicher, daß die Siegermächte
nicht aller dieser für ihn möglicherweise interessanten Leute hatten
habhaft werden können. Mit solchen Experten, die beträchtliches Wissen
und Erfahrung mitbringen würden, wollte er die Forschungsgruppen
ergänzen.
   Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit einer völlig anderen Liste zu. Er
überprüfte eine Aufstellung des wissenschaftlich-technischen Personals
der ehemaligen Raketenversuchsanstalt Peenemünde aus den vierziger
Jahren. Neben den verschiedenen Namen waren unterschiedliche Zei-
chen zu sehen. Er schaute auf ein anderes Blatt, das er vor sich liegen
hatte und setzte hinter einen weiteren Namen ein Kreuz. Der Betreffende
lebte also nicht mehr. Auf dem nächsten Blatt entdeckte er einen der ihn
interessierenden Namen. Er nickte befriedigt und unterstrich ihn. Rechts
daneben schrieb er ein großes "S", welches für "Suchen" stand. Der so

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markierte Name lautete: Prof. Dr. Martin Ludwig Krausinger. Die Fahn-
dung nach Krausinger würde er am folgenden Morgen einleiten lassen.
   Keter griff nach der auf dem Aschenbecher vor sich hin glimmenden
Zigarre, lehnte sich zurück, nahm einen genießerischen Zug, betrachtete
die Glut und stieß dann den Rauch aus. Dabei dachte er an sein strategi-
sches Entwicklungsziel für die Einrichtung, deren Leitung man ihm über-
tragen hatte. Er wollte eines Tages eine Reihe hervorragender
waffentechnischer Entwicklungen auf den Parteitagstisch legen "mit den
besten Empfehlungen - Generalmajor Keter".
   Der General riß sich von seinem Tagtraum los, in dem er sich bereits
von der Staats- und Parteiführung beglückwünscht sah, und konzentrierte
sich wieder ganz auf seine Arbeit. Nun galt es, die konkreten nächsten
Schritte ins Auge zu fassen.
   Etwa eine Stunde später drückte er, zufrieden mit sich, den Rest seiner
Zigarre im Ascher aus, nahm seine Uniformmütze vom Haken, löschte das
Licht und verließ den Raum.
   Es war genau ein Vierteljahr später, an einem sehr heißen Julitag. Die
Fenster von Keters Dienstzimmer in der WVA waren weit geöffnet. Zwei
Ventilatoren sollten die Luft im Raum erträglicher machen. Aber sie
schafften es kaum.
   General Keter steckte sich gerade eine neue Zigarre an. An der Wand in
seinem Rücken hing ein Porträt von Feliks Edmundowitsch Dzierzynski,
dem Gründer der Tscheka, wie der sowjetische Geheimdienst in den
ersten Jahren nach der Oktoberrevolution hieß. Gegenüber dem Fenster
befanden sich die Porträts des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, des
SED-Parteichefs Walter Ulbricht und des Ministerpräsidenten Otto
Grotewohl. Keter diktierte gerade seiner Sekretärin ein Schreiben. Ein
Klopfen an der Tür unterbrach das Diktat. Er rief: "Herein!"
   Ein Offizier betrat den Raum. "Genosse General, die von Ihnen
gewünschte Akte."
   "Danke, Sie können wegtreten."
   Der Ordner, den Keter nun in der Hand hielt, war als "Geheime Ver-
schlußsache" gekennzeichnet und enthielt den Vorgang Krausinger, der
ständig vom Abwehrchef der WVA aktualisiert wurde. Er öffnete den
Aktendeckel und las das oberste Blatt, welches das Datum 04. Juli 1955
trug. Er lebt! Und sogar hier bei uns in der DDR. Ich habe es gewußt! Die
Amerikaner haben ihn also nicht. - Das nenne ich Glück.
   Ein Lächeln veränderte seinen vorher gespannten Gesichtsausdruck.
Seine Leute hatten den Gesuchten aufgespürt. Zufrieden nickte er und
schlug die Asche seiner Havanna an einem schweren Messingascher ab.
Dann griff er in ein Schreibtischfach, holte eine Flasche hervor und zwei

                                                                       33
Kognakschwenker. Er nickte seiner Sekretärin gönnerhaft zu: "Sie trinken
doch auch ein Gläschen?"

   Parchim, 19. August 1955. Über dem Eingangstor des "VEB Textilmode
Parchim-Beilsdorf (K)" hing in ehemals weißer, jetzt verstaubter Schrift auf
verwittertem rotem Grund die Losung: "Der erste Fünfjahrplan wird vor-
fristig erfüllt!" Die Fabriksirene heulte. Aus dem Tor des Betriebes strömte
die Belegschaft dem tristen sozialistischen Feierabend entgegen.
   Am Straßenrand parkte ein schwarzer BMW, Vorkriegsmodell, an dem
zwei junge Männer in Staubmänteln lehnten. Sie gaben sich betont lässig
und beobachteten hinter ihren dunklen Brillen die Menschen, die den
Betrieb verließen. Eine Hand wies aus dem rückwärtigen Fenster auf
einen Mann, der gerade aus dem Werkstor trat und eine Stimme sagte:
"Das ist er. Festnehmen. - Aber unauffällig!"
   Als die Zielperson vor dem Wagen die Straße überqueren wollte, stellte
sich ihr einer der Männer in den Weg, der andere postierte sich seitlich
daneben. "Herr Letticher?" Der so Angesprochene schien etwas über Vier-
zig, war von eher schmächtiger Gestalt, aber von tadelloser Haltung, trug
eine randlose Brille, einen gepflegten Vollbart und extrem kurz geschnit-
tenes borstiges Haar. Er war mit einem abgetragenen, aber sauberen dun-
kelblauen Anzug bekleidet. Trotz der abgeschabten Aktentasche und trotz
seines eher ärmlichen Aussehens wäre einem Menschenkenner und
guten Beobachter sofort aufgefallen, daß dieser Mann bereits bessere
Tage erlebt haben mußte.
   Der Angesprochene stutzte: "Ja. Was wollen Sie von mir?" Der vor ihm
Stehende sah ihn bedeutsam an und antwortete halblaut: "Kriminalpolizei.
Wir haben ein paar Fragen an Sie. - Auf dem Revier. Steigen Sie bitte
ein."
   Der mit Letticher Angeredete reagierte ungehalten: "Wieso Revier? Was
soll das heißen?" Er versuchte an dem Mann vorbeizukommen, aber des-
sen Begleiter stellte sich ihm in den Weg und sagte mit unterdrückter, aber
scharfer Stimme: "Steigen Sie sofort ein, Bürger, sonst wird das sehr
schwerwiegende Folgen für Sie haben!"
   Der so Angefahrene hielt weiteren Widerstand für zwecklos. Er setzte
sich auf den Rücksitz zwischen zwei dieser Leute. Der Wagen fuhr los und
bog um die nächste Straßenecke. Schon bald merkte er, daß die Fahrt
nicht wie behauptet zum Revier führte. Er fuhr sich durch sein stoppliges
Haar. Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Er überlegte fieberhaft, was
man wohl von ihm wolle und wie gefährlich diese Sache für ihn werden
könnte. Ich muß jetzt stark sein, sehr stark sein, dachte er. Selbst wenn
sie mich brechen werden, alles darf ich verraten, nur nicht dieses eine
wirkliche Geheimnis, das ich seit zehn Jahren für mich bewahre.

34
Der Wagen verließ die Stadt und fuhr in Richtung Süden. Er fuhr zügig
und ohne Halt. Dennoch wurde erst nach etwa zwei Stunden das Ziel
erreicht. Es lag in Berlin-Lichtenberg. Die Fahrt, während der nicht
gesprochen worden war, endete vor einem Gebäude, das seinen Gefäng-
nischarakter nicht zu leugnen vermochte.

   Berlin-Lichtenberg, August 1955. Eine schmale Zelle. Einzelzelle. Ein
für viele Insassen von Gefängnissen schwer zu ertragender Fall. Letticher
aber registrierte diese Tatsache mit dem Gefühl der Erleichterung. Wenig-
stens allein. Er wollte niemanden in seiner Nähe haben, denn er befürch-
tete, daß das Spitzel sein würden. Er dachte daran, daß ihm vermutlich
ein solcher Spitzel erst wenige Wochen zuvor im Betrieb als Mitarbeiter
zugeordnet worden war. Das war ein Mann, der ihn fast pausenlos aus-
fragen wollte.
   Er lief, soweit der wenige Platz es zuließ, hin und her und registrierte
dabei die an die Wand geklappte Pritsche, auf der er würde schlafen
müssen. Auf einem dreibeinigen Holzschemel lagen zwei graue, schmut-
zig aussehende Decken. Und dann war da noch ein kleiner Tisch. Und in
einer Ecke stand der Kübel für die Notdurft. Es roch unangenehm in der
Zelle. Hier mußte er möglicherweise für längere Zeit einsitzen?
   Er strich sich nervös mit der Hand durch sein Borstenhaar. Seine Schul-
tern hingen kraftlos herab. Was würden die über ihn wissen? Weshalb war
er hier? Bisher hatten sie auch nicht einmal andeutungsweise zu erkennen
gegeben, daß sie wüßten, wer er wirklich war. Er hatte sich auf den
Schemel gesetzt, stand aber ganz kurze Zeit danach wieder auf und lief
erneut ruhelos auf und ab. Zu sehr bewegte ihn die Ungewißheit darüber,
wie groß die Gefahr für ihn war. Er kannte den Verhaftungsgrund nicht.
Man hatte ihm keinen Haftbefehl vorgelegt. Er ahnte, bei welcher
Institution er sich tatsächlich in Haft befand. Er konnte also keinen Bei-
stand durch einen Anwalt erwarten. All das war unüblich, wenn man erst
einmal denen von der Staatssicherheit in die Hände gefallen war.
  Er suchte weiter nach denkbaren Ursachen für seine Festnahme. Er
hatte sich doch ganz bewußt rausgehalten, damals am 17. Juni. Es war
immer seine Devise gewesen, nicht aufzufallen. Seit 1945. Zehn Jahre
lang hatte das geklappt. Was aber war jetzt? Er hatte sich doch nicht
anders verhalten als all die Jahre vorher. - Oder diente diese Festnahme
lediglich einer routinemäßigen Überprüfung? Hatten die sich vielleicht
nach dem Volksaufstand von 1953, den sie faschistischen Putschversuch
nannten, in ihrer Angst jeden Nichtkommunisten vorgenommen und nun
war auch er dran? - Aber das wären ja einfach zu viele. Er war nahe
daran, den Gedanken völlig zu verwerfen. Vielleicht ist es aber doch so,
aber sie

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sind nach dem Zufallsprinzip vorgegangen? Und er hatte das Pech? -
Sicher würden sie bald merken, daß er sich in keiner Weise beteiligt hatte.
An diese Hoffnung klammerte er sich. Erleichtert beendete er sein rast-
loses Hin- und Herlaufen. Dann erinnerte er sich der Zeit, als er - ebenfalls
wider Willen - wochenlang in einem Lager vegetieren mußte. Er fand, daß
es in dieser Zelle, trotz allem, im Vergleich zu damals wesentlich besser
sei. Hatte er das "Sonderlager Nr. 7" des KGB damals Fünfundvierzig
überlebt, dann würde er das jetzt erst recht überstehen.

   Warenthin, August 1955. Die Luft im Arbeitszimmer von Generalmajor
Keter war wie immer vom Qualm seiner dicken Havanna geschwängert.
Der General besprach mit Major Sorge, seinem Stellvertreter für For-
schung, die Aufstellung der Forschungskollektive.
   Es klopfte. Ein Uniformierter trat ein und meldete: "Genosse General,
die Festnahme des Letticher ist erfolgt. Im Moment befindet er sich in der
Rummelsburger."
   Keter vernahm die Meldung sichtlich erfreut. "Danke, Genosse Ober-
leutnant", antwortete er wohlgelaunt und ließ den Offizier wegtreten. Dann
wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. "Diese Meldung
kommt ja genau richtig. Was meinen Sie, wer uns da ins Netz gegangen
ist? Es ist einer der ganz Wenigen, die uns Riesenschritte voranbringen
können. - Die Amis haben Wernher von Braun und praktisch die meisten
Peenemünder Raketenforscher. Unsere Genossen in Moskau haben bzw.
hatten andere Experten auf dem Gebiet der Waffentechnik, wie Manfred
von Ardenne und Klaus Fuchs, aber auch eine Reihe anderer." Keter
machte eine bedeutungsvolle Pause und setzte dann fort: "Und wir haben
- sie haben's ja gerade gehört... Letticher!"
   Sein Gegenüber sah ihn fragend an, denn dieser Name sagte ihm
nichts.
   Keter beugte sich etwas vor und sprach mit gesenkter Stimme, dabei
seine Rechte auf das linke Handgelenk des Majors legend: "Ich sage
Ihnen, Genosse Sorge, eigentlich müßten wir den Mann gleich nach
Moskau weiterreichen, aber..." Keter zog seine Hand wieder zurück. Von
seiner Zigarre, die er wie immer mit der linken Hand hielt, war etwas
Asche auf seinen Uniformrock gefallen. Er wischte sie mit der freien Hand
weg. Es schien so, als ob er kurz nachdenke, dann setzte er fort:"... wir
müssen jetzt auch einmal an uns denken. Proletarischer Internationa-
lismus - schön und gut. - Aber das ist ein nationales Projekt!" Erwartungs-
voll schaute er Sorge, wohl Zustimmung heischend, an.
   Major Sorge wußte nicht, ob diese nicht gerade sowjetfreundliche
These, provozierend gemeint war, um ihn zu testen, oder ob sie tatsäch-

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lich die gefährliche Meinung des Generals darstellte. Aber selbst wenn
das ehrlich war, so konnte sich ein General vielleicht solche Gedanken
leisten. Ein kleiner Major jedenfalls mußte verdammt vorsichtig sein. Er
reagierte nicht sofort. Dann sagte er schließlich: "Ich habe die ganze Zeit
mein Hirn gemartert und versucht, den Namen Letticher einzuordnen.
Aber ich muß Ihnen ehrlich gestehen, Genösse General, ich kenne einen
solchen Forscher weder als Physiker oder Ingenieurwissenschaftler, noch
als sonst einen für uns interessanten Naturwissenschaftler. - Nein, also
Letticher..., Letticher? Dieser Name sagt mir gar nichts. Und Sie wissen,
daß ich mich da auskenne."
   "Genosse Sorge, ich weiß, ich weiß." Keter legte Sorge beschwichti-
gend die Hand auf den Arm. "Sie sind der Fachmann. Sie kennen natür-
lich alle wichtigen Fachkollegen." Er zwinkerte Sorge verschwörerisch zu:
"Letticher ist selbstverständlich nicht sein richtiger Name. Das ist nur der
Name unter welchem er seit dem Krieg gelebt hat. Halten Sie sich jetzt
fest! - Der richtige Name dieses Mannes lautet ... Martin Ludwig
Krausinger!" Keter schaute Sorge triumphierend und beifallheischend an.
   Sorge starrte seinen Vorgesetzten an und man sah, wie er im Geiste
nach der Person suchte, die zu dem Namen paßte. Dann machte sich ein
zweifelnder Ausdruck auf seinem Gesicht breit: "Krausinger? Meinen Sie
etwa Professor Krausinger - den Bayern?"
   "Ich habe doch gewußt, daß Sie ihn kennen", bestätigte Keter. "ja, es
handelt sich um Professor Dr. Krausinger. Und er stammt ursprünglich aus
Bayern. Stimmt auch." Keters Gesicht spiegelte seinen Stolz über den
guten Fang unübersehbar wider.
   "Genosse General, Sie werden es nicht glauben, aber ich kannte den
Professor vor dem Krieg sogar persönlich. Ich studierte bei ihm an der
Berliner Universität. Allerdings wird er sich nicht an mich erinnern. Ich war
einer von hunderten Studenten, die seine interessanten Vorlesungen
besuchten. Er ist - zumindest aber war - in der Tat eine echte Koryphäe
auf seinem Gebiet. Sie können zu recht stolz sein, daß Sie ihn gefunden
haben."
   "Ich sagte es Ihnen doch", erwiderte Keter und zog zufrieden an seiner
Zigarre.

  Berlin-Lichtenberg, September 1955. Keter stand vor einer großen
Glasscheibe. Als der von ihm beobachtete Letticher alias Krausinger, der
im Nebenraum zum wiederholten Male verhört wurde, für einen Moment in
Richtung des großen Spiegels blickte, als welchen er diese Glasscheibe
von seiner Seite aus wahrnahm, zuckte Keter zurück und sah den Haupt-
mann fragend an, der neben ihm stand.

                                                                          37
"Keine Sorge, Genosse General. Der Untersuchungshäftling kann uns
durch dieses Glas nicht sehen, selbst wenn er genau in diese Richtung
schaut. Und er kann uns auch nicht hören."
   Keter nickte zufrieden. "Und wie kommen Sie voran?"
   "Wir haben ihn jetzt bereits seit drei Wochen in der Mangel. Er scheint
verunsichert. Ich bin sicher, daß er etwas verheimlicht. Irgend etwas. Das
sagt mir meine Erfahrung als Verhörleiter. Aber er ist eine harte Nuß. Und
verschärfte Bedingungen sollen wir ja nicht schaffen. Einfaches Verhör, so
war die Anweisung." Der Hauptmann sah Keter fragend an: "Oder sollen
wir jetzt einen Zahn zulegen?"
   "Nein, nein, das hat alles seine Richtigkeit. Ihr solltet ihn ja nur ein
bißchen weichkochen. Wir beschäftigen uns weiter mit ihm. Er wird mor-
gen abgeholt. - Ich bekomme zwar die Protokolle der Verhöre, aber sagen
Sie     mir,    hat    er    irgend    etwas     Substantielles  geäußert?
Schuldbekenntnisse? Hat er sich in Widersprüche verstrickt?"
   "Widersprüche nicht. Er antwortet sehr überlegt. Entweder sagt er die
Wahrheit oder, was ich eher glaube, er hat ein perfektes Lügengebäude
errichtet. Er gibt zu, daß er 1947 zwei Anzüge - aus gutem Offizierstuch
und als Reparationsleistungen gedacht für die Genossen in Moskau - in
seinem Betrieb gestohlen und in Berlin auf dem Schwarzmarkt verscho-
ben hat. Kleinbürgerliche kriminelle Gewinnsucht habe ich ihm vorge-
worfen. Er bekennt sich zwar schuldig, verteidigt die Tat aber als aus der
Not geboren. Als Kriegsfolge unterernährt, habe er dringend Fleisch und
Butter benötigt." Der Hauptmann blickte Keter Zustimmung heischend an
und setzte empört hinzu: "Dann hätten wir ja alle klauen müssen!" Als
Keter nicht reagierte, fragte ihn der Offizier: "Wenn Sie ihn morgen abho-
len lassen, dann können wir wohl das Verhör beenden?"
   "Ja, machen Sie Schluß. Wenn er in den letzten drei Wochen nicht
wesentlich mehr erzählt hat, als das, was Sie mir gerade sagten, dann
wird er auch in den nächsten Stunden kaum neue Aussagen machen.
Außerdem wollen meine Leute ja auch noch etwas tun."
   Keter sah den Hauptmann bedeutsam an und sagte mit Nachdruck:
"Also weiterhin verschärfte Beobachtung in der Zelle, rund um die Uhr. Ich
will nicht, daß der Mann in einer Kurzschlußreaktion noch die
Schnürsenkel nimmt." Er lachte kurz und trocken auf. "Die hat er zwar
nicht mehr. Aber Sie wissen ja, was ich meine! Der Mann ist mir zu wich-
tig. Wir brauchen ihn lebend und unversehrt!"




38
Letticher hörte die Tür seiner Zelle quietschen. Er richtete sich auf der
Pritsche auf. Wie spät würde es wohl sein? Seine Uhr hatte man ihm
abgenommen. In der Zelle war es vom ersten Tag seines Aufenthaltes
volle vierundzwanzig Stunden ununterbrochen hell gewesen. An der
Deckenbeleuchtung konnte er sich also auch nicht orientieren.
   "Machen Sie sich fertig Untersuchungshäftling Letticher!"
  Sicher geht es wieder zum Verhör, dachte der Häftling. Bisher hatte ihm
niemand Schmerzen zugefügt. Die redeten zwar mit scharfen Zungen,
wurden auch beleidigend, aber seltsamerweise wurde er geschont. Wes-
halb? Das mit den Anzügen schien sie ja nicht befriedigt zu haben. Den-
noch hatten sie Geduld. Wenn dagegen aus den Nachbarzellen welche
vom Verhör zurückgebracht wurden, dann hörte man oft Stöhnen.
   Er hatte sich eiligst frisch gemacht und angekleidet, da betrat der Wär-
ter erneut die Zelle, um ihn zu holen. Er wurde den langen Gang mit den
schweren, mehrfach verriegelten Zellentüren entlanggeführt. Er registrier-
te aber, daß es diesmal nach links ging. Also nicht zum Verhör? - Würde
er etwa entlassen? Hoffnung wurde aber gleich von Skepsis verdrängt. -
Nein. Die hatten doch immer wieder mit Bautzen und Waldheim gedroht!
Sicher ging es jetzt in eines dieser berüchtigten Stasigefängnisse. Als er
dann aber die Effektenkammer betrat, keimte erneut Hoffnung auf und
wurde stärker und stärker.
  "Hier sind Ihre persönlichen Sachen. Überprüfen Sie!"
  Er nickte, die Vollständigkeit bestätigend und unterschrieb eine Quit-
tung. "Bin ich frei?"
  Ein höhnisches Grinsen überzog das Gesicht des Wärters. "Das könnte
Ihnen so passen. Sie Volksfeind Sie! Man erwartet Sie bereits!"
  Also doch Bautzen. Letticher wurde aschgrau im Gesicht, hielt sich aber
aufrecht. Er hörte, wie der Wärter sagte: "Genosse Major, ich übergebe
Ihnen den Untersuchungshäftling."
  "In Ordnung, Genosse." Letticher wurde prüfend betrachtet: "Geht es
Ihnen nicht gut, Herr Letticher?"
  "Es geht schon." Nur keine Schwäche zeigen!
  "Folgen Sie mir bitte" forderte ihn der ihm unbekannte Offizier auf.

   Mährenholz bei Berlin, Herbst 1955. Letticher sah sich um: Ein helles,
freundliches Zimmer war es, in welches man ihn nach einer diesmal nicht
so langen Autofahrt gebracht hatte. Es war ansprechend ausgestattet: Ein
Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und sogar ein bequemer Sessel. Was für
ein Unterschied zur Zelle. Und auch sehr viel besser, als er es bei sich zu
Hause hatte - wenn da nicht die Gitter vor den Fenstern wären. Das
Zimmer befand sich in einer weißen Villa aus den zwanziger Jahren,

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die am Rande eines kleinen Ortes nördlich von Berlin lag. Sie stand in
einem parkähnlichen Grundstück an einem See.
   Während der ganzen Fahrt war kein Wort gesprochen worden. Ihn hat-
ten Gedanken gequält. Einen Anzugdieb begleitet doch kein Stabsoffizier.
Wenn ich nur wüßte, was sie mit mir vorhaben und was sie von mir wis-
sen, hatte er gedacht. Jetzt aber begann er wieder ruhiger zu werden und
die Situation gelassener zu betrachten. Selbst wenn die irgend etwas wis-
sen, sie können niemals die ganze Wahrheit kennen. Niemals. Das ist
absolut unmöglich. Und sie werden sie auch niemals erfahren!
   Er begab sich zu dem Spiegel, der sich über dem Waschbecken befand,
um sich zu betrachten. Er strich sich sein borstiges Haar zurecht und glät-
tete seinen Bart. Dabei fiel ihm auf, daß der Spiegel fest in die Wand ein-
gelassen war. Er würde also nie allein sein. Einen Intimbereich gab es
auch hier nicht.
   Es klopfte. "Ihr Mittagessen." Ein junger Mann, Mitte der Zwanzig, in
Zivil setzte ein Tablett auf dem Tisch ab.
   Er staunte. Eine verführerisch duftende Rinderroulade, Rotkohl und
Salzkartoffeln, Schokoladenpudding mit Vanillesauce und ein Glas Rot-
wein. Das in einem Raum mit vergitterten Fenstern? Das für einen Unter-
suchungshäftling? - Wollten die ihn kaufen? Die erwarteten jedenfalls
mehr von ihm, als ein paar Anzugdiebgeständnisse. Das war klar.
   Er war gerade mit dem Essen fertig und hatte sich bequem in dem Ses-
sel zurückgelehnt, da öffnete sich erneut die Tür. Er wurde in einen Raum
am Ende eines Ganges gebracht. Hinter einem in der Mitte des ansonsten
leeren Raumes stehenden Tisch saß ein älterer Mann in Uniform.
    "Setzen Sie sich bitte, Herr Letticher. Ich bin Oberstleutnant Pauser,
Sonderverhörer des Staatssekretariats für Sicherheit. - Damit Sie wissen,
wer Ihre Gastgeber sind und mit wem Sie es zu tun haben."
   Letticher setzte sich und sah den neuen Verhörer gespannt an. Der
ergänzte seine Vorstellung: "Ich bin zuständig für Nazistraftäter."
   Letticher zuckte zusammen, hatte sich aber in der Gewalt. Jetzt war es
raus. Aus dieser Ecke wehte der Wind. Verdammt, das könnte ins Auge
gehen. - Aber erst einmal abwarten.
   "Herr Letticher, Sie waren Mitglied der Nazipartei und SS-Führer. Nen-
nen Sie mir Ihren dienstlichen Werdegang. Und zwar so detailliert wie
möglich!"
   "Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee? Ich ein alter Nazi?" Let-
ticher, der sich schnell gefaßt hatte, spielte den zu Unrecht Verdächtigten:
"Ich war niemals in meinem Leben bei der SS! Gott bewahre! Mit denen
hatte ich nichts zu tun! Wie kommen Sie nur auf so etwas?" Er wies auf
seine linke Hüfte, wo er bei Kriegsende eine Verletzung erlitten hatte

40
und setzte fort: "Und außerdem. Ich war mein Leben lang invalid. Deshalb
 war ich auch nicht Frontsoldat, sondern nur Volkssturmmann, damals
 Fünfundvierzig."
   Der Verhörer verzog keine Miene: "Also Herr Letticher, ich denke, Sie
haben da nur einiges Wichtiges aus Ihrem früheren Leben verdrängt.
Ginge mir ja vielleicht ebenso, wenn ich in Ihrer Lage wäre." Die letzten
Worte waren in einem beinahe mitfühlenden Ton gesprochen worden.
   Letticher hielt dem lauernden Blick seines Gegenüber wortlos stand. Der
entnahm nun einem Umschlag ein Foto. "Sehen Sie mal, Herr Letticher.
Was halten Sie denn von diesem Foto?" Er legte ein etwa 7x10 cm
großes, vergilbtes Schwarzweißfoto mit geriffelten Rändern vor ihn auf
den Tisch.
  Letticher machte unversehens den Hals etwas lang, hob das Bild aber
nicht auf. Was er da sah reichte ihm schon. Auf dem Foto war eine Grup-
pe von Männern zu sehen. Einen der Uniformierten erkannte er sofort
wieder. Das war ein Mann in SS-Uniform mit den Rangabzeichen eines
Hauptsturmführers. Er war unangenehm überrascht: Verdammt! Da gab
es also doch noch ein Foto von ihm aus dieser Zeit in Uniform. Woher
haben die das nur? Er hatte sich doch so gut wie nie fotografieren lassen,
jedenfalls nicht in Uniform. Er hatte nie eine eigene Familie, für die sich
Fotos aufzuheben gelohnt hätte. - Ja und dann, 1943, da kam die An-
weisung vom Reichssicherheitshauptamt an die gesamte "Dienststelle
Forst", daß sich keiner ablichten lassen dürfe. Aus Sicherheitsgründen.
Die hatten wohl irgendwie erfahren, daß die Amerikaner dabei waren,
Informationen über deutsche Spitzenwissenschaftler, insbesondere über
solche, die für Waffenforschung das notwendige Wissen besaßen, zu
sammeln. Und sie machten sich einen Reim darauf, daß diese Forscher
von amerikanischen Spezialeinheiten entweder aus Deutschland entführt
oder im Reich getötet werden sollten. Zu den potentiellen Zielpersonen
solcher Aktionen wurden zu recht die Angehörigen der "Dienststelle Forst"
gezählt. - Aber irgendwo mußte er doch einmal fotografiert worden sein.
  Dann kam ihm schlagartig etwas Schreckliches zu Bewußtsein: Ob die
ihn etwa mit den Konzentrationslagern in Verbindung bringen wollen? Na
dann gute Nacht! Vielleicht war es doch besser, gleich klarzustellen, daß
er kein SS-Mann im üblichen Sinne war, keiner von den KZ-Wach-
mannschaften und auch nicht von der Waffen-SS. Schnell sagte er: "Ja. -
Auf dem Foto, das ... das bin ich." Das letzte hatte er mit Mühe herausge-
bracht, denn der Mund war ihm vor Aufregung trocken geworden.
  Zufrieden sah ihn der Verhörer an: "Ich habe ja gewußt, daß Sie das nur
vergessen hatten. Sie haben sich erinnert und wir können uns nun über
Einzelheiten unterhalten." Dann folgten wie aus der Pistole geschossen

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NVA: "Armeerundschau", Juni 1970
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Geheimakte Krausinger

  • 1.
  • 2. Gibt es ausserirdische Technologie nur in den Hangars supergeheimer Luftwaffenlestgelände in den USA?  Was verbergen der ehemalige Stasigeneral und der Standartenführer der SS seit Jahrzehnten in der unterirdischen Anlage in Mecklenburg?  Welche Ziele verfolgt ein KGB-Oberst mit dem dort Versteckten?  Ist die Demokratie im vereinten Deutschland gegen jähe Änderungen der politischen Machtverhältnisse wirklich gewappnet?  Ein Journalist aus Kassel begibt sich bei dem Versuch, ein unglaubliches Komplott aufzudecken in Lebensgefahr.
  • 3. Ich habe genügend Konstruktionsunterlagen und Produktionspläne gesehen, um sagen zu können, daß -wenn sie den Krieg noch für einige Monate hätten verlängern können - wir mit vollkommen neuartigen und todbringenden Waffen konfrontiert worden wären. Aus dem Bericht des Leiters einer britischen Spezialistengruppe zur Untersuchung der deutschen "Wunderwaffen" Deutschland 1945
  • 4. Kapitel I Kassel, Rostock, Berlin - März 1995. Der ICE verließ am frühen morgen den Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe in Richtung Norden. Ich saß in einem der Erste-Klasse-Großraumwaggons und schaute aus dem Fenster. Draußen war es noch dunkel und der Regen peitschte gegen die Schei- ben. Der Zug hatte relativ schnell beschleunigt und bald das Stadtgebiet ver- lassen. Einige Stunden Zugfahrt hatte ich nun vor mir, denn das Ziel mei- ner Reise war die Hafenstadt Rostock an der Ostsee. Ich fuhr zur Beiset- zung meines Vaters. Eine angenehme Reise war es also keinesfalls. Außerdem würde sie, was ich zu dem Zeitpunkt allerdings noch nicht einmal ahnte, viel Unruhe in mein Leben bringen. Ich bedauerte, daß ich diese Fahrt nicht schon drei Wochen vorher angetreten hatte, gleich nachdem mein Vater einen ersten Schlaganfall erlitten hatte. Da ich mich mit ihm nicht sehr gut verstand, hatte ich es unterlassen. Dies bereute ich jetzt natürlich sehr. Aber wie das so ist, wenn man etwas bereut, dann ist es in der Regel zu spät. Der Grund für die Diskrepanzen zwischen uns lag )ahre zurück. Vater hatte mir nie verziehen, daß ich nicht seinem Wunsche entsprechend Offizier, sondern statt dessen Journalist geworden war. Offizier wollte ich nie werden, schon gar nicht, wie er, beim MfS. Nach meinem Journalistikstudium hätte ich ihn aber durchaus noch versöhnlich stimmen können, wenn ich wenigstens bei einem sogenannten Par- teiorgan Redakteur geworden wäre und seinen geliebten Sozialismus in den höchsten Tönen besungen und in den schönsten Farben gemalt hätte. Aber Kaisergeburtstagsdichter zu sein, widerstrebte mir ebenso. Ich ver- mochte es nicht, das DDR-Regime, dem ich kaum etwas abgewinnen konnte, zu beweihräuchern. So verzichtete ich trotz eines glänzenden Universitätsabschlusses auf eine mir vorausgesagte Karriere als Journalist und wurde ein schlecht bezahlter Mitarbeiter an einem unbedeutenden heimatgeschichtlichen Blatt, das vom Kreismuseum einer thüringischen Kleinstadt herausgegeben wurde. Inzwischen arbeite ich allerdings seit einigen jahren recht erfolgreich als Redakteur in einem nordhessischen Rundfunkstudio und habe meine Zelte in Kassel aufgeschlagen. Nun war aber ein Fall eingetreten, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Mein Vater war an den Folgen eines zweiten Schlaganfalls verstorben. Das hatte mir Mutter mühsam gefaßt mitgeteilt, als sie mich vor zwei Tagen angerufen hatte. 5
  • 5. Was mir seitdem nicht aus dem Sinn ging, das waren die Worte, die sie schluchzend hinzugesetzt hatte:"... weil ihn dieser Quader so sehr aufge- regt hat!" Was konnte sie damit nur gemeint haben? Den erwähnten Quader hatte ich im Wendejahr 1989 kennengelernt. Vater hatte mit Kollegen aus der Waffentechnischen Versuchsanstalt, kurz WVA genannt, seinen Sechzigsten gefeiert. Es war im Sommer, von der kommenden totalen politischen Wende ahnte noch niemand etwas. Ich baute gerade mit Bernhard, meinem Schwager, den Grill auf, da hörte man sie schon, sich dem Wochenendgrundstück nähern. Als Erster stürmte Quader auf Vater zu, umarmte den etwas verdutzt dreinschauen- den Jubilar und gratulierte lautstark: "Genosse Kaiserr! Du um Forschung und Entwicklung in WVA verdient sich gemacht hast iberr viele Jahrre. Weiß sich Parrtei dies zu wirrdigen. Deshalb gehörrst zu Genossen, wo sich Medaille '40 Jahrre DDR' errhalten zum 7. Oktobern Kann sagen dirr als Parrteisekrretärr schon heute das. Weißt sicherr, daß sich gibt nurr kleines Kontingent fürr WVA!" Aufgrund seiner Aussprache und wegen des seltsamen Satzbaues glaubte ich zunächst, daß dieser Mann kein Deutscher sei. Quader muß damals so um die Fünfzig gewesen sein. Er war nicht größer als 1,75 und sehr stämmig gebaut. Sein Kopf war fast kahl. An seine kalten grauen, stets nervös zuckenden Augen kann ich mich noch gut erinnern. Der Mann war, wie ich später erfuhr, der Parteisekretär der WVA, Oberst Her- mann Quader, genannt der "Kommissar". Aber was sollte dieser Mensch mit dem Tod meines Vaters zu tun gehabt haben? Der Zug hatte inzwischen Hannover erreicht. Ich schaute aus dem Fen- ster und beobachtete das rege Treiben auf dem belebten Bahnsteig. Als der ICE wieder anfuhr schlug ich ein Wochenmagazin auf, das ich mir vor Fahrtantritt in Kassel gekauft hatte. Unkonzentriert blätterte ich darin herum. Aber sehr schnell waren meine Gedanken wieder bei der Geburtstagsfeier. Gleich nach Quader war ein großer, kräftig gebauter älterer Mann an den Senior herangetreten und hatte ihm einen riesigen Blumenstrauß und eine feine Ledermappe überreicht: "Herzlichen Glückwunsch, Genosse Kaiser, mögen alle Ihre Wünsche in Erfüllung gehen. Auf weitere gute Zusammenarbeit." Das war General Keter, der Chef meines Vaters gewe- sen. An die weiteren Personen kann ich mich nicht mehr so genau erinnern, bis auf Michael Rummel, den Adjutanten des Generals. Er war der Jüng- ste in dieser Gruppe, etwa in meinem Alter, also um die Dreißig, und mir gleich wegen seiner relativ offenen, unkomplizierten Art sympathisch gewesen. 6
  • 6. Die Durchsage, daß der Zug in wenigen Minuten im Hauptbahnhof von Hamburg einlaufen werde, riß mich aus meinen Gedanken. Zwanzig Minuten später saß ich dann im Interregio nach Rostock. Und schon wieder fielen mir die Worte meiner Mutter ein: "... weil ihn dieser Quader so sehr aufgeregt hat!" Ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen, denn das Verhältnis meines Vaters zu diesem Quader schien nicht schlecht gewesen zu sein. Ich sehe noch immer vor mir, wie Quader damals im Garten mit einem Teil des Eßbestecks an sein Glas schlug und zum wiederholten Male einen freundschaftlichen Toast auf Vater ausbrachte. Ich muß gestehen, daß mir der Mann nicht sonderlich sympathisch gewesen war, da er sich immer wieder in den Vordergrund drängte und weil er sich so überhaupt keine Mühe zu geben schien, klares Deutsch zu sprechen. Michael Rummel, mit dem ich mich an diesem Abend unterhielt, deutete an, Quader wolle als Russe gelten, weil er sich so allen überlegen fühlen konnte. Er wähne sich damit nicht nur auf der Seite der Stärkeren, sondern er vermeine selbst einer der Stärkeren zu sein. Wir machten, da wir uns nicht kannten, natürlich vorsichtig, unsere Witzchen über Quader. Michael meinte aber, der Mann sei eigentlich nicht zum Lachen, eher zum Heulen. Gerade diese letzte Aussage war von beinahe prophetischer Bedeutung. Das konnten wir allerdings damals beide noch nicht wissen. jetzt aber konnte ich mir einfach nicht erklären, wieso dieser Mensch meinen Vater, der doch seit einiger Zeit beruflich nichts mehr mit ihm zu tun hatte, so aufgeregt haben sollte. Ich nahm mir vor, Mutter noch einmal danach zu fragen, und zwar dann, wenn sie sich nach der Beerdigung etwas beruhigt haben würde. Das erinnerte mich wieder an die bevorstehende Trauerfeier. Vater ist tot, dachte ich. So früh. - Eigentlich hat er auch immer nur gearbeitet, sogar im Urlaub, solange ich zurückdenken kann. Ein Leben lang. Die meiste Zeit jedoch in der WVA, wie die Waffentechnische Versuchsanstalt des MfS genannt wurde. Die befand sich zu DDR-Zeiten in Warenthin im Bezirk Rostock. Der Senior, in unserer Familie wurde mein Vater übrigens stets der "Senior" genannt und ich der "Junior", weil wir beide Theo heißen, der Senior also war seit 1972 Mitarbeiter dieser Einrichtung und in den acht- ziger Jahren als Oberst Leiter von Forschung und Entwicklung gewesen. Nach der Wende war er bis Anfang 1995 Mitglied der Geschäftsleitung der aus der WVA entstandenen "Special High Tech Warenthin GmbH (SHT)". 7
  • 7. Da arbeitet man ein Leben lang und freut sich vielleicht auf ein paar schöne Jahre ohne den Berufsstreß - und dann war's das! Ich schüttelte den Kopf. Als ich mir darüber bewußt wurde, schaute ich mich im Abteil um, aber es hatte niemand meine Selbstgespräche bemerkt. Mit mir hatte Vater ja, ehrlich gesagt, auch keine große Freude. Zwar waren wir nie richtig verfeindet gewesen, aber meine Besuche bei den Eltern waren doch in all den Jahren recht selten gewesen. Ich dachte daran, daß ich dagegen nach der Wende in recht kurzen Abständen mehrmals in Rostock gewesen war. Ich fragte mich, ob es mich wohl dorthin getrieben hatte, um dem Senior deutlich zu zeigen, daß ich Recht gehabt hatte mit meiner politischen Verweigerung, während er mit seinem Engagement so völlig falsch lag? Wie auch immer. Es zeigte sich jedenfalls, daß Vater nach wie vor der Meinung war, daß der Sozialismus eine gute Sache sei, die leider nicht richtig umgesetzt worden wäre. Er war enttäuscht, aber er klammerte sich noch immer an den Gedanken, daß noch nicht alles verloren sei. Irgendwie schienen er und wohl auch seine Genossen in der SHT nach wie vor der Meinung zu sein, man könne die verfahrene Geschichte immer noch zugunsten des Sozialismus korrigieren. Eine Stimme schreckte mich aus meinen Gedanken auf: "Ihren Fahrausweis bitte!" Irgendwo hatte ich doch ... Ich griff in verschiedene Taschen. Aber ich fand die Fahrkarte nicht. Es wurde schon langsam peinlich. Ein Mädel, das mir schräg gegenüber saß, grinste bereits belustigt vor sich hin. Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich den Fahrschein im Mantel hatte. Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, daß es nicht mehr weit bis Rostock sein konnte. Ich dachte an Vaters letzte Arbeitsstelle. Womit sich diese Nachfolge- einrichtung der WVA, die SHT, für die er seit 1990 einer der Geschäfts- führer gewesen war, nun eigentlich beschäftigte, das hatte er mir nie gesagt. Eines schien aber klar zu sein. Da hatten ein paar hohe Offiziere den Betrieb, der vorher eine Stasiinstitution gewesen war, per Eintragung als GmbH einfach zu ihrem Eigentum gemacht. So wie sich verschiedene LPG-Vorsitzende und Betriebsdirektoren aller Art das ehemalige "Volksei- gentum" unter den Nagel gerissen hatten, dort wo keine Wessi-Unterneh- mer für den symbolischen Kaufpreis von einer Mark das Rennen gemacht und die Betriebe endgültig zugrunde gerichtet hatten. Moderne Raubritter, wie ich fand, sanktioniert und gefördert durch Unterlassungen oder direkte Kumpanei sogenannter "Treuhänder". Ich legte das Magazin, das ich ungelesen in Händen hielt, wieder zur Seite, schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft aus Feldern, Wäldern und Ortschaften und versank bald erneut in Gedanken. 8
  • 8. Was hatte Quader mit Vaters Tod zu tun? Vielleicht hing es mit der Umwandlung der WVA in diese GmbH zusammen? Ich mußte Mutter unbedingt danach fragen. Dafür würde sich bestimmt Zeit finden, denn ich hatte vor, einige Tage zu bleiben. Inzwischen näherte sich der Zug mit Verspätung dem Hauptbahnhof von Rostock. Ich hätte wohl doch besser den früheren Zug nehmen sollen. Der Platz vor der Trauerhalle war voller Menschen. Als ich das Taxi ver- ließ, dachte ich: Ob die wohl alle für den Senior...? - Aber sicher finden hier mehrere Trauerfeiern kurz hintereinander statt, sagte ich mir. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß so viele Leute zur Beerdigung eines Ver- treters des alten Regimes gekommen sein sollten. Meine Schwester und ihr Mann hatten Mutter stützen müssen. Sie schauten mich mißbilligend an. Dann machte Bernhard seinen Platz an Mutters Seite für mich frei. Wir betraten die Trauerhalle und setzten uns in die erste Reihe. Vorn stand, praktisch vergraben unter zahllosen Kränzen und Gebinden, der Sarg. Alles war sehr feierlich. Ich konnte mich einer Träne nicht erwehren, die ich versuchte durch gesenkten Kopf und zusammengeknif- fene Augen zu verhindern. Sie tropfte mir dennoch auf das Jackett. Mutter hatte es bemerkt. Sie drückte mir, ohne aufzublicken meine Hand, in der die ihre lag und sagte leise zu mir, immerhin einem Mittdreißiger: "Guter junge." Das hätte mich fast zu weiteren Tränen veranlaßt, die ich nur mit Mühe verhindern konnte. Ich fühlte mich für einen Augenblick wirklich wie ein kleiner Junge, der seinen Vater verloren hatte. Nachdem die letzten Töne des Largo von Händel verklungen waren, sprach der Trauerredner über den Verstorbenen, der ein guter Vater und Ehemann gewesen sei und dessen ganze Hingabe der Naturwissenschaft gegolten habe, der er, Dr. Dr. Theodor Kaiser, auch beruflich gedient habe. Kein Wort fiel über den Dienst, für den er dreißig Jahre seines Lebens tätig gewesen war - eben als Wissenschaftler - aber auch als Offizier. Es war nicht angebracht. Und es war gut so. Es ersparte der Familie Peinlich- keiten. Obwohl ja kaum jemand anwesend war, der von dieser Tatsache keine Kenntnis hatte - außer, ja vielleicht außer dem Trauerredner. Aber selbst das war nicht sicher, denn ich erkannte in ihm einen ehemaligen Universitätsprofessor für Marxismus-Leninismus, der einmal ein Kollege meiner Schwester gewesen war. Der mußte halt jetzt auch sein Geld auf andere Weise verdienen. Und reden hatten solche Leute ja schließlich gelernt. 9
  • 9. Ich hatte mich umgesehen. Hier wurde kein Geächteter zu Grabe getragen. Die Trauerhalle war bis auf den letzten Platz besetzt. Verwand- te, Wohnungs- oder Gartennachbarn, alte Genossen waren gekommen. Von der letzten Gruppe waren mir einige bekannt. Und auch der ehemalige Oberst Quader war zu sehen, wie ich unan- genehm berührt feststellen mußte. Er saß mit zwei anderen, mir allerdings unbekannten Männern slawischen Typs, in der letzten Reihe. Ich muß gestehen, daß mich ein ganz seltsames bedrückendes, fast Angst erzeu- gendes Gefühl ergriff, als ich ihn sah. Nach der Trauerrede ging es hinaus und es formierte sich ein Zug, wel- cher dem Sarg folgte. Über zunächst breite, durch Koniferen gesäumte und die Grabreihen trennende, dann enger werdende Wege ging es zu dem Teil des Friedhofs, in dem die Grabstelle lag. Dort angekommen ließ der Trauerredner noch einige Satze über den Sinn des Lebens und den natürlichen Gang alles Sterblichen hören. Mut- ter schluchzte auf. Bettina und ich stützten sie. Dann warfen wir jeder drei Hände voll Erde auf den Sarg. Ich wandte mich zur Seite und erblickte am rechten Rand der Trauer- gemeinde erneut diesen Quader und seine Begleiter. Fast schien es mir, als ob sie sich vergewissern wollten, daß Vater tatsächlich bestattet wurde. Als wir die Kondolenzen entgegennahmen, stellte ich fest, daß Quader nicht unter denen war, die zu uns kamen. Irgendwie war ich erleichtert. Wir verließen den Friedhof und fuhren zu einem Restaurant, wo wir im größeren Familienkreis gemeinsam zu Mittag aßen. Bald rief ich aber, Mutters Wunsch entsprechend, ein Taxi und fuhr mit ihr nach Hause. Sie wollte allein sein, was alle verstanden. Ich hatte die ganze Zeit über gemerkt, daß Mutter sehr bedrückt war, hatte es aber der natürlichen Reaktion auf ihr plötzliches Witwendasein zugeschrieben. Dennoch beobachtete ich, daß sie, als wir den Friedhof verließen, ängstlich in Quaders Richtung geblickt hatte. Das erinnerte mich wieder an ihre Worte am Telefon. Später, als wir in der elterlichen Wohnung angekommen waren, fragte ich sie: "Mutter, du hast doch etwas. Was bedrückt dich denn? Es ist doch nicht allein Vaters Tod. Ich merke doch, daß da noch etwas ist!" Sie wehrte ab. Es wäre nichts, wirklich nichts. Es sei einfach die Trauer, das sei doch wohl verständlich. Allerdings merkte ich an ihrer Stimme und an der Tatsache, daß sie es dabei vermied, mir in die Augen zu sehen, daß doch etwas nicht stimmte. Ich ließ nicht locker: "Mir kannst du doch nichts vormachen. Du hast doch Angst vor irgend etwas. - Und wieso hat eigentlich dieser Quader Vater so sehr aufgeregt?" 10
  • 10. Als sie den Namen Quader hörte, brach es dann doch aus ihr heraus. Unter Tränen rief sie, meine Hände ergreifend: "Sie haben ihn umge- bracht!" "Wer hat ihn umgebracht?" fragte ich erschrocken. Ich hatte mit keiner Silbe damit gerechnet, daß es sich bei Vaters Tod um einen unnatürlichen Vorgang gehandelt haben könnte. Tausend Gedanken schossen mir plötz- lich durch den Kopf, ob das wohl stimmte, was Mutter gesagt hatte, was ich wohl tun mußte, als Sohn und wie gefährlich das Ganze möglicher- weise für uns, die Überlebenden der Familie war. Es wurde mir wechsel- weise heiß und kalt und der kalte Schweiß trat mir vor Aufregung auf die Stirn. Ich sage es ehrlich: Es waren Angst und Wut, die in mir rangen, um die Oberhand zu gewinnen. Im Moment war die Angst stärker, denn ich brauchte mein Leben lang keine zu haben. Dieses Gefühl war für mich also absolut ungewohnt. Aber ich mußte mich zusammenreißen und Mutter durfte nicht merken, wie es mir ging. Ich mußte den Starken spie- len, der die Situation überblickte und gekonnt damit umgehen konnte. Mutter hatte mir zum Glück meine momentane Schwäche und Ratlo- sigkeit nicht angesehen. Sie starrte vor sich hin und sagte dann, mir nun ins Gesicht blickend, leise und mit angsterfüllter Stimme: "Die sind zu allem fähig. Ich habe Angst, daß sie auch dir etwas antun!" "Wer sind die? Und wieso sollten die mir etwas antun?" Sie antwortete nicht, hatte wieder den Kopf gesenkt und blickte erneut vor sich hin. Erst nach längerem Drängen meinerseits entschloß sie sich dann, mir doch zu sagen, was sich an dem Tag zugetragen hatte, als Vater den ersten Schlaganfall erlitt. Es war am Morgen etwa gegen neun Uhr, als drei Männer Vater auf- suchten. Einer dieser drei Besucher war Oberst Quader gewesen. Die anderen beiden kannte sie nicht. Aber sie nahm an, daß es sich um Rus- sen handelte. Zunächst sprach Quader leise, dann wurde er immer lauter. Jedenfalls hörte Mutter im Nebenzimmer, wie er mehrmals lautstark die Herausgabe einer Akte forderte. Er bedrängte Vater immer aggressiver werdend. Daraufhin erregte sich auch Vater. Mutter hörte, wie er immer wieder bestritt, irgendeine Akte aus der WVA zu besitzen und sich die unver- schämte Unterstellung und Belästigung verbat. Plötzlich brach Vaters Stimme ab und sie hörte einen überrascht und zugleich verärgert klingenden Aufschrei Quaders. Sie hielt es nebenan nicht mehr aus, denn sie war voller Angst um ihren Mann. In dem Moment, als sie das Wohnzimmer betrat, muß es wohl passiert sein. Sie erblickte als erstes Quader, der über den zusammengesunkenen Senior gebeugt stand, ihn betrachtete und dann seinen Begleitern ein Zei- 11
  • 11. chen gab, mit ihm die Wohnung zu verlassen. Im Hinausgehen hatte er gesagt: "Schlaganfall. Rrufen Arrzt, Frrau Kaiserr." Und fast draußen, Mut- ter hatte bereits völlig erschrocken und hilflos vor Vater gekniet, da hatte Quader noch über die Schulter zurückgerufen: "Und kein Worrt zu irr-gend jemand, daß warren hierr!" Es hatte wie ein Befehl geklungen. Vater war mit einem Notarztwagen in ein Krankenhaus gebracht wor- den. Mutter erfuhr bald, daß er an den Beinen und im Gesicht Lähmungen erlitten hatte und daß sein Sprachzentrum gestört war. Die Ärzte machten ihr allerdings Hoffnungen. Das könne sich alles weitgehend normalisieren, wenn der Patient den nötigen Willen und die Energie aufbrächte, wieder gesund zu werden. Da hätten sie aber bei ihrem Mann keinerlei Bedenken, und andere hätten das schließlich auch schon geschafft. Nach etwa vierzehn Tagen konnte Vater aus der Klinik entlassen wer- den. Wie bereits im Krankenhaus, verweigerte er aber auch nun jegliche Zusammenarbeit mit Logopäden, die ihm helfen wollten, seine Sprache wiederzuerlangen. Niemand hat das verstehen können. Bereits am zweiten Tag nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, erschien Quader erneut mit seinen beiden Begleitern. - Als er merkte, daß mein verängstigt wirkender Vater nicht mehr sprechen konnte, wurde er noch wütender und nahm statt seiner, Mutter in die Mangel. Ihr Mann habe eine sehr wichtige Akte mitgenommen, als er aus der Geschäftsleitung der GmbH ausgeschieden sei. Bestimmt aus Verse- hen, er wolle ja nicht unterstellen, daß es Absicht gewesen sei. Sicher wisse sie, wo er die Akte habe. Als Mutter dies verneinte, bohrte er weiter, ob es spezielle Plätze gebe, wo Vater wichtige Dinge aufbewahre. Ob sie einen Safe oder vielleicht ein Schließfach bei einer Bank oder etwas ähnliches besäßen und so weiter. Schließlich drohte er ihr mit äußerst unangenehmen Folgen, falls die Akte nicht wieder auftauche. Er könne die Staatsanwaltschaft veranlassen, eine Hausdurchsuchung durchzuführen, es könne aber auch Schlimmeres passieren. Wenngleich sie von einem Staatsanwalt nichts zu befürchten hatte, war ihr doch allein der Gedanke, die Polizei würde in die Wohnung kommen, schon wegen der Nachbarn unangenehm. Die andere Drohung, es könne auch "Schlimmeres" passieren, war ihr jedoch noch viel unheimlicher gewesen. So allein mit einem völlig hilflosen Mann und den unan- genehmen Besuchern, die sie endlich loswerden wollte, willigte sie schließlich ein und ging mit Quader zu ihrer Bank, um ihm das Schließfach zu zeigen. 12
  • 12. Wortlos war Quader gegangen, als er feststellen mußte, daß sich in dem Schließfach keine Akte befand, allerdings nicht, ohne ihr mit dro- hendem Blick und Unterton gesagt zu haben: "Sehen wiederr uns!" Einige Tage später geschah es dann. Mutter war in die Stadt gefahren. Als sie zurückkam fand sie Vater mit einem zweiten Schlaganfall vor. Er war aus dem Sessel gerutscht und lag stöhnend auf dem Teppich. Das Wohnzimmer war in großer Unordnung. Sie hatte Vater im Notarztwagen zum Krankenhaus begleitet. Als sie es erreichten, lebte er aber bereits nicht mehr. Später, als sie mit meiner Schwester wieder die Wohnung betrat, erfaßte sie erst einmal das ganze Ausmaß der Unordnung. Die gesamte Wohnung war, während sie einkaufte, von oberst zu unterst gekehrt worden. Es fehlten zwar auch Wertsachen und Geld. Aber sie vermutete sofort, daß dies nur eine falsche Fährte war, welche die Jäger nach der Akte gelegt haben mußten. Der Senior, der sich weder hatte wehren, noch um Hilfe rufen können, mußte offensichtlich hilflos mit ansehen, wie seine Wohnung durchwühlt wurde. Infolge der großen Erregung hatte er dann wohl seinen zweiten Schlaganfall bekommen. Spuren von Gewaltanwendung waren jedenfalls bei der Obduktion nicht gefunden worden. Die Polizei fand auch keinerlei verwertbare Spuren der Einbrecher, Fingerabdrücke etc. Da waren Profis am Werk gewesen. Gegenüber der Polizei, aber auch gegenüber meiner Schwester hatte Mutter Quader und die Akte jedenfalls nicht erwähnt. Ich hatte mich, während Mutter berichtete, wieder völlig gefaßt und Kampfgeist aktiviert. Ich war empört und voller Wut auf Quader. Ich wollte ihn unbedingt zur Rede stellen, ich wollte ihn anzeigen, ich wollte ihn vernichten. Ich hatte bis dahin nicht geahnt, zu welchen Haßgefühlen ich fähig war. Mutter bat mich jedoch inständig, eine Konfrontation zu ver- meiden. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, fragte ich sie, ob sie denn Bernhard, ihren Schwiegersohn, über die Ereignisse informiert habe. Das habe sie nicht getan, antwortete sie mir und erklärte mir auch, wes- halb. Der Senior sei, als sie Bernhards Namen nach seinem ersten Schlaganfall erwähnt habe, sehr unruhig geworden und habe auf ein Blatt Papier gekritzelt: "Kein Verlaß. Gehört dazu!" Mutter sagte mir auch, daß schon eine Woche zuvor ein Gespräch zwi- schen Vater und Bernhard stattgefunden habe, welches offensichtlich für beide Seiten nicht erfreulich gewesen sei, denn Bernhard habe sich mißmutig entfernt und Vater sei ebenso die Verärgerung anzusehen gewesen, wenngleich er nichts gesagt habe. 13
  • 13. Mein Schwager Bernhard war zu DDR-Zeiten als Major der Kriminal- polizei tätig gewesen, im Politischen Kommissariat, von dem es nach der Wende hieß, daß es ein Ableger der Stasi gewesen sei. Der Senior war immer stolz auf seinen Schwiegersohn und hatte ihn mir oft als Vorbild hingestellt. Seit der Wende war Bernhard nun Kriminaloberrat, ich glaube beim LKA. Mutter gab mir einen Zettel, der unter der Sitzfläche eines Küchen- stuhles angebracht war. Als ich verwundert fragte, was das sei, sagte sie nur: "Von Vater für dich." Ich erfuhr von ihr, daß der Senior, als er nach dem ersten Schlaganfall wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden war, mühsam etwas auf diesen Zettel gekritzelt hatte. Ich entzifferte die drei Worte: "Theo, Laube, Akte". Überrascht und befriedigt registrierte ich, daß er nicht seinem "Lieblings"-Schwiegersohn, sondern mir, dem "verlorenen Sohn" seine letzte Nachricht hinterlassen hatte. "Theo, Laube, Akte". Was hieß das? Die eigene Laube konnte er kaum gemeint haben. Aber plötzlich war mir klar, wo ich suchen mußte. Am nächsten Tag, gleich nach dem Mittagessen, war mein Ziel Großmutters alte Gartenlaube. Als ich mit dem Wagen des Seniors losfuhr, stellte ich fest, daß ein BMW, besetzt mit vier mir unbekannten Männern, ebenfalls den Parkplatz verließ. Zunächst war das nichts Ungewöhnliches. Ich merkte aber bald, daß sie mir folgten. Deshalb beschloß ich, sie auf jeden Fall abzuhängen. So gut kannte ich Rostock noch, daß ich durch die Benutzung von Nebenstraßen und indem ich dreist eine Einbahnstraße in der falschen Richtung befuhr, entkam. Da die Verfolger solches von mir offensichtlich nicht erwartet hatten, fuhren sie glatt, genau wie ich gehofft hatte, in eine andere Straße. Ich sah jedenfalls nichts mehr von ihnen. In einer Seitenstraße stellte ich den Wagen ab und lief zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Dort stellte ich mich zwischen andere Wartende und tat so, als ob ich mich für den Straßenbahnfahrplan und für die Wer- bung interessierte, damit ich mein Gesicht vor Blicken aus vorbeifahren- den Pkws verbergen konnte. Zum Glück traf die Bahn bereits zwei Minu- ten später ein. Drei Stationen weiter stieg ich dann schon wieder aus. Nun war es nicht mehr weit bis zur Gartenkolonie. Ungesehen gelangte ich in den Garten. Den Schlüssel entnahm ich dem mir bekannten Versteck. Als ich die Tür öffnete, schlug mir ein muffiger Geruch entgegen, der sich aus der Feuchtigkeit einer ungeheizten 14
  • 14. Laube ergab und natürlich jetzt, nach dem langen Winter, besonders intensiv war. Ich versuchte meine Augen an das Halbdunkel zu gewöh- nen. Hier hatte sich nichts verändert. Es schien alles in Ordnung zu sein. Nachdem ich mich noch einmal vergewissert hatte, daß sich niemand dem Garten näherte, begab ich mich zielgerichtet dorthin, wo ich das Ver- steck vermutete, auf das mich der Zettel des Seniors hingewiesen hatte. Ich ging in die kleine Küche, in der ein uralter eiserner Herd stand, auf dem Großmutter immer gekocht hatte. Die letzte Diele unter dem Herd, ganz hinten an der Wand, war in der Länge von etwa einem knappen Meter herausnehmbar. Dort hatte Großvater 1945 seine Pistole versteckt. Irgend jemand hatte ihn bei den Russen angezeigt. Da auf Waffenbesitz die Todesstrafe stand, lernte ich meinen Großvater nicht mehr kennen. Ich legte mich auf die Seite und tastete mit der Hand des ausgestreckten rechten Armes nach der Diele. Da der Herd ziemlich breit war und unter ihm wenig Platz, mußte ich mich ganz an den kalten Fußboden pressen und extrem strecken. Aber es gelang mir, heranzukommen. Vorsichtig nahm ich das Brett heraus und griff in den Hohlraum, der sich darunter befand. Tatsächlich - da war etwas. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich mußte den rechten Arm noch mehr strecken. Stell dich nicht so an, sagte ich mir. Großvater und Vater haben es ja schließlich auch geschafft und die waren älter als du es jetzt bist. - Aber vielleicht war es ja leichter, etwas hineinzulegen, als etwas herauszuholen? Sicher, das mußte es sein. Ich zog den Arm zurück, stand auf, streckte mich und rieb mir mein schmerzendes rechtes Oberarmgelenk. Dann lief ich schnell in den Wohnraum und spähte aus dem leicht geöffneten Türspalt in den Garten und zum Weg. Aber draußen war alles ruhig. Es war von Vorteil für mich, daß man von der Laube aus jede sich nähernde Person bemerken konnte. Ich schloß die Tür ab und begab mich zurück in die Küche. Erneut ver- suchte ich es. Diesmal hatte ich mehr Glück. Ich bekam mit Daumen und Zeigefinger etwas zu greifen und zog es heraus. Dickes braunes Packpa- pier umhüllte ein flaches Paket. Obwohl es noch nicht allzu lange dort gelegen haben konnte, war es voller Staub und Spinnweben. Ich fuhr mit der flachen Linken darüber und öffnete es sofort. Falls es mir meine Ver- folger auf dem Rückweg abjagen würden, wollte ich wenigstens wissen, worum es da eigentlich ging. Der Inhalt bestand, wie ich gleich darauf feststellen konnte, aus einem Ordner. Obenauf lag ein Blatt Papier, auf welchem in der Schrift des Seniors geschrieben stand: "Mach was draus, Theo!" Als ich diese Worte las, war ich wieder ganz seltsam berührt. Was da stand, das war praktisch eines Vaters letzter Auftrag an seinen Sohn, an mich. Würde ich ihn erfüllen können? Ich schlug den Ordner auf. Auf der ersten Seite befand sich folgender Text: 15
  • 15. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik Staatssekretariat für Sicherheit im Mdl Geheime Verschlußsache (GVS) SfS im Mdl Nr. 0003-211/55 vom 20.05.1955 Vorgang: Krausinger; Martin, Ludwig, geb. am 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern Begonnen: 20. Mai 1955 Abgeschlossen: Ich blätterte weiter. Die nächste Seite war ein maschinenschriftliches Rechercheergebnis. Aktennotiz SfS im Mdl Nr. 0003-211.1/55 v. 20.05.1955 Vorgang: Krausinger, Martin, Ludwig geb. 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern Blatt 1 Berlin, den 20.05.1955 Laut Personalverzeichnis der Heeresversuchsanstalt Peenemünde hat besagter K. am 24. März 1941 seine Tätigkeit in selbiger Anstalt aufge- nommen. Verzeichnet im Personalregister als Professor Dr. Martin Ludwig Krausinger. Kein Hinweis auf eine SS-Zugehörigkeit. Vormalige Arbeitsstelle: Universität unter den Linden, Reichshauptstadt Berlin. In den Gehaltslisten letztmalig nachweisbar: Juli 1943. Taucht auch nicht auf in der Gefallenenliste des britischen Luftangriffes vom 17./18.08. 1943 auf Peenemünde. Desgleichen auch nicht als Verwundeter auszumachen. Ab August 1943 wie vom Erdboden verschwunden. Schriebeis, Oberltn. im SfS Auf dem folgenden Blatt befand sich lediglich ein kurzer handschriftlicher Vermerk: Zielperson befand sich nicht in alliierter Gefangenschaft und ist auch nicht zu finden auf Gefallenenlisten des Zweiten Weltkrieges. 02. Juni 1955 Siebrecht, Major im SfS Ich war enttäuscht. Eine Akte aus 1955! Ich hatte eher angenommen, daß sich das, was Vater mir hinterlassen hatte, mit der Stasi, nicht aber mit der Suche nach einem alten Nazi beschäftigen würde. Das war ja wohl Schnee von gestern. Was sollte ich daraus machen? Aber ich wollte nicht vorschnell abbrechen. Erst mußte ich mir einen Überblick über die 16
  • 16. gesamte Akte verschaffen, selbst wenn ich bis spät in die Nacht hinein im Garten bleiben müßte. Um unangenehmen Überraschungen vorzubeu- gen, schaute ich erst noch einmal nach, ob die Fensterläden wirklich dicht waren. Dann vertiefte ich mich in das Material. Ich las einen Zei- tungsausschnitt, der säuberlich auf ein Blatt Papier geklebt worden war. Es handelte sich um einen Artikel aus dem "Wiesbadener Stadtblatt" vom August 1945. Alsoss sucht noch immer Oberursel, Samstag, 18.08.1945, Bericht unseres Korrespondenten Franz Schulz Obwohl der Krieg längst beendet ist, sucht die Amerikanische Militärre- gierung noch immer nach Spitzenkräften der deutschen Raketenfor- schung. Es wird vermutet, daß diese Forscher in die Vereinigten Staaten verbracht werden sollen. Etwa einhundert von ihnen sind in Oberursel, im sogenannten "Camp King" der amerikanischen Militärregierung untergebracht und werden von Spezialisten verhört. Uns wurde bekannt, daß einige weitere führende Köpfe der deutschen Raketenforschung, darunter die Professoren Krausinger und Danzmann noch immer gesucht werden. Es wird vermutet, daß sie zum Troß des wahrscheinlich nach Südamerika geflüchteten Reichsleiters Bormann gehören. Es bleibt abzuwarten, wann und wie die amerikanischen Operationen "Overcast" und "Paperclip" abgeschlossen werden. Wir berichten darüber. Im Unterschied zu den Amerikanern hatte die Stasi offensichtlich bei der Suche nach Krausinger Erfolg gehabt, wie ich auf den folgenden beiden Seiten feststellen konnte. Ministerrat der DDR Ministerium des Innern (Mdl), Staatssekretariat für Sicherheit Bezirksverwaltung Schwerin 27. Juni 1955 Kreisdienststelle Parchim Sachbearbeiter: Pieper Vorgangsübernahme Betr.: Übernahme eines volkspolizeilichen Vorganges in Verantwortung des SfS Vom VPKA Parchim wurde uns mit heutigem Datum die Anzeige eines Bürgers aus der Volksrepublik Polen zuständigkeitshalber übergeben. 17
  • 17. Am Donnerstag, dem 23. Juni d.J. erschien der polnische Staatsbürger Jan Zbigniew Kalpuczky, welcher mit einer Delegation der Kommunisti- schen Partei Polens (PKP) das VEB (K) Bekleidungswerk Parchim-Beils- dorf besucht hatte, auf dem Volkspolizeikreisamt und erstattete Anzeige (s. Anlage) gegen einen Werktätigen aus dem besuchten Betrieb, in dem er einen Raketenforscher der Nazis aus Peenemünde erkannt haben will. Die Ermittlungen der VP ergaben, daß ein Lagerist namens Walter Letticher, wh. in Parchim, Walter-Bleibtreu-Straße 97 gemeint war. Der polnische Genosse hatte nach eigenen Angaben lediglich den Par- teisekretär des Betriebes erstaunt gefragt, warum denn dieser Mann nicht mehr in der Wissenschaft tätig sei. Er habe diesen Professor, wie er die verdächtige Person nannte, in Peenemünde gesehen, als er selbst als Zwangsarbeiter dort eingesetzt gewesen sei. An den Namen konnte er sich nicht erinnern. Aber er habe ihn hundertprozentig wiedererkannt. Der Genosse Parteisekretär (einer unserer IM) habe ihn dann veranlaßt, eine Anzeige bei der Volkspolizei zu machen. Meldung an Bezirksverwaltung und an Staatssekretariat, wegen eventu- eller Nazistraftaten und wegen möglicher Übereinstimmung der Person Letticher mit dem zur Fahndung ausgeschriebenen Krausinger, Martin, Ludwig, erfolgte bereits durch mich. Pieper, Oltn. Das zweite, als "Vertrauliche Verschlußsache" gekennzeichnete Doku- ment war ein sogenannter "Operativplan", das heißt der Plan zur Bespit- zelung dieses Krausinger. Es hatte den gleichen Dokumentenkopf wie das vorherige Papier und wies das Datum vom 29. Juni 1955 auf. Operativer Vorgang "Nazi" 1. Operativplan zum Operativen Vorgang "Nazi" Der OV "Nazi" gegen den Lageristen Letticher, Walter, geb. am 16.06.1903 in Rosenheim/Bayern, wh. Parchim, Walter-Bleibtreu-Str. 97 hat das Ziel, a) abzuklären, ob es sich bei dem zu Observierenden um den ehemaligen SS-Führer M. L. Krausinger aus München handelt, welche Verbindungen er pflegt, ob Kontakte, eventuell konspirativer Art, nach Westdeutschland bestehen sowie b) seine Verhaftung vorzubereiten. 1.1. Einsatz Informeller Mitarbeiter Der Einsatz der IM ist vorrangig darauf zu richten, den "Nazi" und sein Umfeld, sowie eventuelle Beziehungen in den westzonalen oder sonstigen imperialistischen Herrschaftsbereich aufzuklären sowie einen 18
  • 18. Grund zu finden, den "Nazi" wegen eines kriminellen Straftatbestandes (Diebstahl o. ä.) belangen zu können. 1.1.1. Informeller Mitarbeiter "Fahrrad" Für den IM "Fahrrad" wird die Möglichkeit geschaffen, in den unmittel- baren Arbeitsbereich des "Nazi" zu gelangen. Seine Aufgabe wird vor allen Dingen darin bestehen, über den "Nazi" persönliche Informationen zu gewinnen, die Aufschluß über seine Person geben. Verantw. für die Instruktion und die Führung des IM: Ltn. Drösel 1.1.2. Informeller Mitarbeiter "Sigrid" Für die Mitarbeiterin "Sigrid" besteht die Möglichkeit, den "Nazi" zu kontaktieren, da er Stammgast in der Stadtbibliothek ist. Ihre Aufgabe besteht darin, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen und Infor- mationen über Absichten, Ziele, Charaktereigenschaften und Schwächen zu schöpfen. Verantw. für die Instruktion und die Führung des IM: Ultn. Schmidt 1.2. Koordinierung des Einsatzes der beiden IM Verantwortl.: Oltn. Pieper 2. Koordinierung aller Maßnahmen Koordinierung aller Maßnahmen erfolgt durch Zentrale Ermittlergruppe "Nazistraftäter". Meldungen direkt an diese Gruppe; Durchschläge an Generalmajor Keter, Dienststelle WVA 3. Weitere operative Maßnahmen Im Moment keine. Vorlage erarbeitet: Pieper, Oberleutnant Dieser Krausinger oder Letticher war also im Zweiten Weltkrieg Rake- tenforscher gewesen. Das erklärte mir nun allerdings das große Interesse aller Seiten an ihm. Was war das aber für ein Mensch? Diese Frage wurde mir durch den in der Akte befindlichen Lebenslauf beantwortet. Es han- delte sich bei dem Mann, wie ich dort lesen konnte, um einen Naturwis- senschaftler, der schon vor vielen Jahrzehnten als Forscher und Hoch- schullehrer tätig gewesen war. Aber er wäre inzwischen bereits über 90 Jahre alt! Wieso bewahrten die eine Akte auf über jemanden, der entwe- der bereits nicht mehr lebte oder doch zumindest schon bald dreißig Jahre lang im Rentenalter war? - Oder sollte der auch als Ruheständler für die gearbeitet haben? Möglich wäre das schon. Aber inzwischen war er doch sicher längst nicht mehr aktiv. Oder? 19
  • 19. Ich hatte bereits längere Zeit fast ohne Unterbrechung gelesen. Es war anstrengend bei dem Licht der kleinen Lampe, zumal ich gleichzeitig darauf bedacht war, mein Gehör darauf zu konzentrieren, ob sich nicht doch jemand an die Laube heranschlich. Ich blätterte weiter. Auf den fol- genden Seiten fand ich den Bericht über Krausingers Festnahme und jede Menge Verhörprotokolle, die ich gespannt las. Plötzlich schreckte ich auf und starrte zur Tür. War da etwas? Ich sprang schnell auf. Die Akte fiel zu Boden. Nachdem ich das Licht gelöscht hatte, tastete ich mich vorsichtig zum Fenster. Dort zog ich den Vorhang zurück und spähte durch einen kleinen Spalt des außen ange- brachten Fensterladens. Draußen war es schon dämmrig. Aber es war nichts Verdächtiges festzustellen. Ich zog den Vorhang wieder zu, lausch- te an der Tür und tastete mich im Dunkeln vorsichtig zurück zur Couch. Dort knipste ich die kleine Lampe wieder an und nahm die Akte vom Boden. Überrascht hob ich einen darunter liegenden Brief auf, der aus ihr herausgefallen sein mußte. Auf dem gefalteten Briefbogen erkannte ich die Handschrift meines Vaters. Es war ein seltsames Gefühl, das mich ergriff, denn praktisch erhielt ich in dem Moment eine weitere Botschaft von einem Verstorbenen. Es dauerte sicher ein, zwei Minuten, bis ich soweit war, daß ich den Brief lesen konnte. Lieber Theo, wir haben uns zwar über die Jahre entfernt voneinander, was ich immer sehr bedauert habe, aber jetzt sind neue Zeiten angebrochen und der Grund unserer Meinungsverschiedenheiten ist beseitigt. Du bist mein Sohn und Du bist Journalist. Ich glaube, daß das vorliegende Material für Dich so interessant sein wird, daß Du damit an die Öffentlichkeit gehen wirst. Vielleicht kann ich damit etwas zur Aufarbeitung der Vergangenheit bei- tragen und mache damit etwas gut von dem, was ich ja falsch gemacht zu haben scheine. Als einer der Geschäftsführer der SHT Warenthin GmbH hatte ich vor einigen Jahren das ehemalige Dienstzimmer meines früheren Chefs, des Generals Keter - Du kennst ihn - übernommen. Vor wenigen Monaten, als ich mein Dienstzimmer räumte, da ich in den Ruhestand ging, fand ich im untersten Schreibtischfach, ganz nach hinten gerutscht, eine Akte, von der ich glaubte, es sei eine meiner Akten. Allerdings ist es eine Akte, die der General, als er das Dienstzimmer 1990 überstürzt räumen mußte, offensichtlich vergaß. Mir war der Name Krausinger, der darauf stand, unbekannt. Erst als ich den Inhalt las, bekam ich mit, daß sie einen Mitarbeiter, der mir persön- 20
  • 20. lich bekannt war, betraf. Dieser Mann hieß allerdings Dr. Letticher und war seit undenklichen Zeiten, länger jedenfalls als ich, in der WVA tätig. Wenn Du Dich mit der Akte beschäftigst, dann wirst Du bald merken, daß es mit und um diesen Mann herum Geheimnisse geben muß. Mir war das all die Jahre, die ich ihn kannte, nicht bewußt. Aber nun, wo ich diese Akte kenne, werden mir einige Ungereimtheiten klar. Ich habe die Akte mitgenommen. Keter schien sie nicht zu vermissen. Er arbeitete bereits seit Jahren nicht mehr bei uns. Ich hielt sie für interessant. Inzwischen weiß ich, daß die Akte nicht lediglich interessant ist, sondern gefährlich. Ich habe nach meinem Ausscheiden aus der GmbH mehrere Anrufe er- halten, diese Akte betreffend, wo sie sei, nur ich könne sie haben und so weiter. Das hat meinen Verdacht, daß da etwas faul ist, nur noch ver- stärkt. Vor einer Woche, als ich einen Spaziergang gemacht habe, wurde ich von zwei Männern angesprochen und bedroht - wegen der Akte! Ich habe Mutter natürlich nichts davon gesagt. Sie regt sich immer gleich zu sehr auf, hat einfach Angst. Was man verstehen kann. Ich befürchte, daß diese Leute nicht nachgeben werden, bis sie die Akte haben. Ich möchte, daß Du sie Dir ansiehst und recherchierst um möglicherweise Schlimmes zu verhindern. Eigentlich möchte ich Dir die Akte persönlich übergeben. Aber man weiß ja nie, was dazwischen kommt. Vorsichtshalber habe ich sie erst einmal versteckt. Dein Vater PS: Anbei einige Notizen, die meiner Kenntnis entsprechend, Dir helfen können, einiges in der Akte besser zu verstehen. Ich hatte mich ziemlich gewundert, daß der Senior doch noch eine Wende in seinen Ansichten vollzogen haben sollte. Ich glaube aber, es war nicht ein Bruch mit seinen grundlegenden Überzeugungen, sondern mehr ein Bruch mit Extremisten unter seinen ehemaligen Genossen. Dieser Brief aber, der mir helfen sollte, die Akte zu verstehen, ließ be- dauerlicherweise weit mehr Fragen offen, als er beantwortet hatte. Of- fensichtlich wußte der Senior auch nichts Genaues, ahnte mehr, als er wußte. Wie sollte nun ich, der ich dieser Sache und diesen Leuten, um die es ging, doch unendlich ferner stand als er, klären, was dahinter steckte? Der Senior hatte auch Blätter mit Notizen über seine Zeit in der WVA und sein Wissen über Keter und diesen Krausinger alias Letticher beige- legt. Damit konnte ich mich aber nicht mehr befassen, denn es war spät 21
  • 21. geworden und ich mußte mich auf den Heimweg machen. Sicher machte sich Mutter auch schon Gedanken darüber, wo ich so lange blieb. Aber wohin mit der Akte? Ich konnte sie ja nicht einfach mit zu ihr nehmen. Es war schließlich gefährlich, sie zu besitzen. Dann hatte ich eine Idee. Sie mußte von einer Vertrauensperson an eine Adresse gesendet werden, die der anderen Seite nicht bekannt war. Schnell packte ich alles zusammen, schaute mich noch einmal um, lösch- te das Licht und schloß die Laube ab. Vorsichtig verließ ich den Garten. Es war bereits dunkel. Alles war still. Meine Verfolger schienen zu meinem Glück tatsächlich keine Ahnung von diesem Grundstück zu haben. Auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle winkte ich ein Taxi und ließ mich vor dem Haus meiner Tante absetzen. Es war etwa 20.00 Uhr, als ich bei ihr klingelte. Tante Traudchen freute sich über meinen Besuch. Bevor ich mich eine Stunde später von ihr verabschiedete, bat ich sie, am nächsten Tag ein Paket für mich aufzugeben. Ich schrieb ihr die Adresse von Meike, meiner Freundin, auf. Als Absender konnte sie ruhig ihre eigene Adresse angeben. Nun konnte ich einigermaßen sicher sein, daß das Paket gut nach Kassel kommen würde. Ich rief auch gleich bei Meike an und bat sie, ein in den nächsten Tagen eintreffendes Paket von einer Frau Waltraud Freudenberg ungeöffnet für mich aufzubewahren. Mit einem Taxi gelangte ich dann zur Wohnung meiner Eltern. Ich wollte an diesem Abend natürlich auf keinen Fall zu dem in der Stadt abge- stellten Wagen, da ich befürchtete, daß er entdeckt worden war und man dort auf mich wartete. Später, als ich in Mutters Gästezimmer lag und nicht gleich einschlafen konnte, ging mir die Geheimakte erneut durch den Kopf. Ich hatte ja darin gelesen, daß dieser Krausinger erst viele Jahre nach dem Kriege von der Stasi entdeckt und festgenommen worden war. Wo er sich all die Jahre aufgehalten hatte und wie es ihm gelungen war, in der DDR unerkannt zu leben, hoffte ich später noch zu lesen. Ich hatte aber auch geglaubt Informationen zu finden über General Keter, den Mann, der verantwortlich war für die Akte und möglicherweise sogar für Vaters Tod. War er es, der ihm diese Leute auf den Hals gehetzt hatte? War er es, der jetzt auch mich verfolgen und beobachten ließ? Weshalb war er nicht zur Beerdigung erschienen? Oder lebte er vielleicht auch nicht mehr? Im Gegensatz zu diesem Krausinger, der mir völlig unbekannt war, kannte ich den General persönlich von der erwähnten Geburtstagsfeier. Ich erinnerte mich an einen großen, kräftigen Mann mit militärisch kurzem Haarschnitt, einem ausdrucksvollen breiten Gesicht und einer dröhnenden Stimme. Ein Mann mit durchaus charismatischer Ausstrahlung. 22
  • 22. Es mußte mir gelingen, an die Personalien Keters heranzukommen. Aber wie? Mir wurde klar, daß das, wenn überhaupt, dann nur in Berlin gelingen könnte, denn die WVA unterstand zu DDR-Zeiten direkt einem der Stellvertreter des Ministers. So entschloß ich mich, auf dem Rückweg nach Kassel über Berlin zu fahren. Am nächsten Morgen erklärte ich Mutter, daß ich Vaters Erwartung gemäß etwas tun wolle: "Dieser Quader kommt mir nicht so einfach davon!" Sie war erschrocken und versuchte mich erneut davon abzuhalten. "Das bringt uns doch Vater auch nicht wieder und du begibst dich unnötig in Gefahr", warnte sie mich eindringlich. Ich versicherte ihr, daß ich nicht als ein Robin Hood losziehen wolle, sondern das Ganze journalistisch zu lösen gedächte. Damit konnte ich sie etwas beruhigen. Sie war enttäuscht, als ich meine noch am selben Tage vorgesehene Abreise erwähnte. Ich versprach ihr aber, sie bald wieder zu besuchen, was ihr den Abschied etwas erleichterte. Nach dem Frühstück fuhr ich in die Innenstadt, wo ich den am Vorabend geparkten Wagen abholte und nach einem kurzen Besuch bei meiner Schwester wieder auf den Parkplatz vor Mutters Haus stellte. Als ich mich von meiner Schwester Bettina verabschiedete, hatte ich meinen Schwager Bernhard angetroffen. Ich sagte ihm, daß ich verfolgt worden war. Überraschenderweise fragte er mich aber nicht etwa nach den Umständen der Verfolgung, sondern meinte sofort, kaum daß ich ausgeredet hatte: "Ach, das bildest du dir doch bloß ein! - Und außerdem, wenn schon, die sind an der Akte interessiert, die sie vom Senior haben wollten. Ist doch klar. Die gehört schließlich ihnen. Ich weiß auch nicht, was sich dein Vater dabei gedacht hat!" Die letzten Worte klangen vorwurfsvoll und er hatte mißbilligend den Kopf geschüttelt. Er gab sich nicht die geringste Mühe, mich in dem Glauben zu lassen, er wisse nichts von einer Akte und ich staunte über die Dreistigkeit, mit der er, auf meine Antwort lauernd, fragte: "Äh, hast du vielleicht diese Akte gesehen?" Ich hatte mich aber nicht verraten und sofort Empörung geheuchelt: "Was denn nur für eine Akte? Von einer Akte weiß ich nichts. Also ehrlich ich weiß überhaupt nicht, was die von mir wollen!" Bernhard harte mich mißtrauisch angesehen, aber nicht geantwortet. Dann war ich gegangen. Wieder in Mutters Wohnung, blieb mir nur noch eine halbe Stunde, bis ich endgültig gehen mußte. Mutter hatte meinen Koffer bereits gepackt, so wie in alten Zeiten, wenn ich zum Studienort fuhr. Bald war auch das Taxi da, welches mich zum Hauptbahnhof brach- te. 23
  • 23. Ich vermutete, daß ich möglicherweise wieder beobachtet und verfolgt werden würde. Eventuelle Verfolger wollte ich täuschen und abhängen. Pünktlich um 11.58 Uhr stieg ich deshalb in den Zug nach Hannover über Lübeck, obwohl ich ja beabsichtigte, direkt nach Berlin zu fahren. Ich lief durch zwei Waggons und verließ den Zug wieder auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß mir niemand gefolgt war. Rasch lief ich über das Gleis zum Nachbar- bahnsteig. Dort setzte ich mich in den Personenzug nach Güstrow. Ich wußte aus dem Fahrplan, wann ich ihn wieder verlassen mußte. Durch das Fenster sah ich den anderen Zug, den ich nur kurz betreten und schnell wieder verlassen hatte, Minuten später abfahren. Auf dem Bahnsteig, waren nur wenige, mir unverdächtig erscheinende Personen zu sehen. Dennoch wartete ich in dem sich langsam füllenden Zug. Wenige Minuten vor seiner offiziellen Abfahrzeit wechselte ich meine Wendejacke schnell von gelb auf blau. Über den braunen Koffer zog ich eine große gelbe Plastiktüte von Mutters letztem Bettenkauf. Schließlich setzte ich eine Baskenmütze auf, die ich bis dahin in der Tasche gehabt hatte. Derart verändert wagte ich mich auf den Bahnsteig. Da ich noch zwanzig Minuten auf den Zug nach Berlin würde warten müssen, wollte ich nicht wie auf dem Präsentierteller stehen. Deshalb begab ich mich in die Herrentoilette und stellte mich samt Koffer in eine der Kabinen. Vor lauter Langeweile studierte ich die dummen, humorvollen oder perversen Inschriften, die mit Bleistift, Kugelschreiber oder Messern an den Wänden von den Vorbenutzern hinterlassen worden waren. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß ich noch zehn Minuten ausharren mußte. Es ist ja kaum zu glauben, wie lang ein paar Minuten werden kön- nen! Plötzlich ging mir durch den Kopf: Was würden die machen, wenn die mich erwischten? Würden sie mir nur das Gepäck entreißen, glaubend, die Akte wäre darin? Oder würden sie mich zusammenschlagen -als Warnung? Oder würden die gar so kaltblütig sein, mich ganz auszu- schalten? Könnte ich hier überhaupt Hilfe erwarten? Würde Polizei kom- men? Rechtzeitig? Ich wähnte mich in einer Falle sitzend. Ich versuchte die unangenehmen Gedanken zu verdrängen, zu ignorieren. Doch sie kamen immer wieder. Aber ich mußte ausharren. Wenn sie mich wirklich verfolgten und wußten im Moment nicht, wo ich war, so war ich hier noch am sichersten, denn wenn ich mich längere Zeit auf dem Bahnsteig aufhielte, würden sie mich vielleicht erkennen. Dann war es endlich soweit. Der Zug nach Berlin würde in drei Minuten den Bahnhof verlassen. Daß er eingefahren war, hatte ich bereits über die Lautsprecheransage gehört. Ich verließ die Toilette und lief durch die 24
  • 24. Unterführung hinüber zu dem Bahnsteig, auf dem der Zug abfahrbereit stand. In normalem Tempo ging ich dann an dem Zug entlang, da ich nicht auffallen wollte. Ich bestieg den Intercity und suchte mir einen Platz in einem leeren Sechserabteil. Ich hatte gerade mein Gepäck verstaut, da hörte ich bereits den Pfiff der Bahnsteigaufsicht und der Zug ruckte an. Wenige Minuten später war er bereits außerhalb des Bahnhofs in voller Fahrt und bewegte sich in Richtung Neubrandenburgs, seines nächsten Zieles. Sicher konnte ich nicht sein, daß keine Verfolger im Zug waren. Aber ich hatte alles versucht, sie abzuhängen. Ich versuchte das Wochenmagazin zu lesen, welches ich mir schon in Kassel gekauft hatte, denn ich wollte mich einmal völlig ablenken von der Akte. Aber es gelang mir nur schlecht. Immer wieder mußte ich an den Inhalt dieser Akte denken. Es war mir unverständlich, weshalb meine Eltern wegen dieses mir trotz der Aufschrift "Geheime Verschlußsache" nicht unbedingt brisant erscheinenden Materials unter Druck gesetzt worden waren und weshalb man wahrscheinlich auch mich beobachtete. Eine Stunde später hatte der Zug Neubrandenburg erreicht. Unter den zahlreichen Menschen auf dem Bahnsteig fiel mir ein Mann besonders auf, der ein Foto in der Hand zu halten schien. Er schaute noch einmal darauf und steckte es dann in die Manteltasche. Dann stieg er in den nächsten Waggon ein. Als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, erschien der Mann wenig später und sah sich die männlichen Fahrgäste genau an, während er den Gang entlangkam. Als er mich bemerkte, glaubte ich millisekundenlang ein Erkennen in seinen Augen gesehen zu haben und einen befriedigten Gesichtsausdruck, der zu den Worten gepaßt hätte: "Hab ich dich also." Unbewegten Gesichtes ging er an meinem Platz vorbei in den nächsten Waggon. Waren es meine überreizten Nerven, oder war das tatsächlich ein Ver- folger? Ich sah den Mann später nicht wieder. Was allerdings nichts heißen mußte. Der hatte mich vielleicht schon längst wieder an einen anderen Beschatter übergeben. Ich versuchte, nicht weiter daran zu den- ken, da mich das ziemlich verunsicherte. Als ich im Hauptbahnhof von Berlin den Zug verließ, fiel mir niemand auf, den ich als einen Verfolger eingestuft hätte. Ich war erleichtert, aber es war mir klar, daß ich nicht sicher sein konnte. 25
  • 25. Nicht weit vom Bahnhof entfernt fand ich ein Hotel. Das Erste, was ich tat, als ich das Zimmer bezogen hatte, war ein Anruf in meiner Kasseler Redaktion. Ich informierte den Chefredakteur, daß ich dringend einen Re- chercheauftrag mit Stempel und Unterschrift benötigte für eine interes- sante Geschichte, der ich auf der Spur sei. "Wie lange brauchst du dafür, Klaus? Ich möchte mir das Fax abrufen. Ich habe meine Gründe dafür." Mußte ja im Hotel nicht unbedingt bekannt werden, was ich vorhatte. Gut eineinhalb Stunden später, ich hatte inzwischen im Hotel zu Mittag gegessen und mich dann auf die Suche gemacht, fand ich eine Telefon- zelle mit Faxgerät. Mit dem Fax aus der Redaktion hielt ich nun etwas Offizielles in Händen, das mir meine Aufgabe leicht machen würde, glaubte ich. Ich machte mich sofort auf den Weg zu der Behörde, welche die Akten der Stasi verwaltete. Bei der Anmeldung legte ich meinen Pres- seausweis vor und den Rechercheauftrag. Ich bekam ein Formular herü- bergereicht, das ich im Warteraum ausfüllte. Als ich den ausgefüllten Antrag vorlegte, sagte mir der Mitarbeiter der Behörde, daß ich in etwa drei Monaten damit rechnen könne, einen Ter- min für den Lesesaal zu bekommen. Ich dachte, ich hörte nicht richtig. Empört wies ich darauf hin, daß ich die Informationen schnellstens be- nötigte, weil wir den Bericht nicht erst nach dem Jahre 2000 senden woll- ten. Da könne er nichts machen, sagte der Mann, der die Anträge entgegen- nahm, das sei halt so und nur, wenn ich über eine Sondergenehmigung verfügte, könne ich auf einen früheren Termin hoffen, schließlich warteten ja Hunderttausende auf Einsicht in Ihre Akten und man sei ja in erster Linie für die betroffenen Bürger da und nicht für die Medien. Verdammt, dachte ich. So schwer hatte ich es mir nicht vorgestellt. Ich verließ die Räume der Behörde und begab mich zurück zum Hotel. Unterwegs verfluchte ich die Umstände und suchte krampfhaft nach einer Lösung. Das Wort "Sondergenehmigung" spukte in meinem Kopf. Woher nur nehmen? Dann fiel mir plötzlich ein, daß ich ja möglicherweise doch noch einen Joker im Ärmel hatte. Ein Jahr zuvor hatte ein Absolvententreffen der Journalistischen Fakultät an der Leipziger Uni stattgefunden. Mein Jahrgang hatte sich getroffen und dabei hatte ich auch Hansi Hecht wiedergesehen, mit dem ich zur Zeit meines Studiums in einer Seminargruppe gewesen war und in einer Studentenbude gewohnt hatte. Hans-Joachim Hecht, der in der Redaktion des "Neuen Deutschland" sein Volontariat gemacht hatte und nach dem Studium Redakteur bei der Armeezeitung "Nationale Volksarmee" geworden war, hatte ganz groß Karriere gemacht. Er war Sozialdemokrat geworden und leitete nun in 26
  • 26. Stellvertretung eine Abteilung des Presse- und Informationsamtes der Landesregierung. In meinem Hotelzimmer angekommen, suchte ich sofort seine Telefon- nummer heraus und rief ihn an. Ich hatte großes Glück, denn er war gleich selbst am Apparat. Wir verabredeten uns für den Folgetag. Hansi, recht dick geworden, wie ich still registrierte, schütteres dunkel- blondes Haar mit leicht angegrauten Schläfen, einen großen Kopf auf einem kurzen Hals, hineingezwängt in ein etwas zu enges Sakko, das al- lerdings stoffmäßig vom Feinsten war, saß schon an einem der Tische, als ich am nächsten Tag das Restaurant betrat, in dem wir uns verabredet hatten. Nach der freudigen Begrüßung, unterhielten wir uns zunächst über Privates. Hansi fragte mich auch, ob ich eine Unterkunft hätte und ich nannte ihm das Hotel, in dem ich abgestiegen war. "Hättest sonst bei mir wohnen können", meinte er. Er war schon immer recht unkompliziert. "Vielen Dank, Hansi. Das ist sehr nett. - Übrigens bin ich nicht einfach auf der Durchreise in Berlin abgestiegen, sondern ich habe hier auch dienstlich zu tun. Ich recherchiere für einen Bericht." Hansi zeigte sich interessiert. Er war ja schließlich auch vom Fach. "Worum geht's denn?" "Ich will über die Generale der Staatssicherheit schreiben, über ihre Vergangenheit und was sie heute so tun." "Was, über die Stasigenerale?" Hansi riß, wie mir schien, betont über- rascht die Augen auf. "Theo! Wir haben 1995! Meinst du, daß dieses Thema noch jemanden interessiert?" Er hatte zweifelnd die Augenbrauen hochgezogen, die Lippen vorgeschoben und schüttelte nun bedächtig den Kopf. Hansi mußte ja nicht die ganze Wahrheit wissen. Die hatte er von mir schon zu DDR-Zeiten, als wir eine gemeinsame Studentenbude bewohn- ten, nicht immer erfahren. Ein guter Kumpel war er mir gegenüber stets gewesen. Das mußte man ihm lassen. Aber er war im Gegensatz zu mir als Parteilosem stets auch ein eifriger Genosse. In unserer Sektion Journalismus war er sogar Studentenvertreter in der Parteileitung. Ich erinnere mich, wie er einmal einen Kommilitonen bei der Parteileitung wegen irgendeiner Verfehlung verpfiffen hatte und dies mir gegenüber legitimieren wollte, indem er meinte: "Ich will ihm ja nichts Schlechtes, aber melden muß ich ihn, schon um ihm zu helfen." Mich daran erinnernd sagte ich: "Ach weißt du, mein Chefredakteur hat sich das vorgenommen und ich muß die Arbeit machen. Kennst das ja. Jetzt habe ich nun ein Problem 27
  • 27. bei der Behörde, die die Akten verwaltet. Ich soll drei Monate warten. Aber der Bericht muß in zwei Wochen bereits gesendet werden. Nur mit Sondergenehmigung geht es angeblich schneller." Hansi sah mich nachdenklich an. Nach einer kurzen Pause meinte er dann aber: "Na gut, wenn Ihr das wirklich machen wollt." Er schien nun meine Absicht zu akzeptieren und war sogar bereit, mir zu helfen. "Da helfe ich dir. Das ist kein Problem für mich. - Interessieren dich da ganz bestimmte Generale?" Dabei betrachtete er mich, wie mir schien sehr aufmerksam. Vorsicht, sagte mir, für mich überraschend, eine innere Stimme, Vor- sicht! In dieser Sache kann man keinem trauen! "Ach wo. Ich kenne doch keinen von denen. Ist mir eigentlich egal, wessen Unterlagen die mir zei- gen. Aber ein paar brauche ich schon. Damit ich Substanz habe, für die Sendung. Du weißt schon!" Hansi schien zufrieden mit der Antwort. "Weißt du, komm einfach mit. Mein Amt ist nicht weit von hier. Mein Wagen steht vor der Tür. Ich lasse dir die Genehmigung ausfertigen." Dreißig Minuten später hielt ich tatsächlich eine solche Sondergeneh- migung in Händen. Meinen Dank beantwortete Hansi: "Ja, wozu hat man denn Freunde, Theo?" Und er setzte hinzu: "Um der guten alten Zeiten willen!" Dabei lächelte er mir, die Aussage bestärkend, mit dem Kopf nickend zu. Noch am gleichen Nachmittag legte ich in der Behörde das neue Papier auf den Tisch. "Gut", sagte der Mitarbeiter und fügte hinzu: "In zwei Wochen." Ich glaubte wiederum nicht recht gehört zu haben. Zwei Wochen? Ich arbeitete mit allen Mitteln, ich bat, ich drohte, ich appellierte an die Ein- sicht, bis ich den Mann, der nun glaubte, in wenigen Tagen sei bereits Sendung über das Thema und wahrscheinlich einfach Mitleid für mich empfand, dann doch so weit hatte, daß er sagte: "Gut. Kommen Sie über- morgen wieder. Ab neun Uhr liegt das Material für Sie bereit. - Eins noch: Es gab ja, wie Sie sicher wissen, eine Menge Generale bei der Stasi, wür- den Ihnen die Unterlagen von etwa zehn dieser Leute reichen? - Und haben Sie spezielle Wünsche?" "ja, zehn reichen. Wissen Sie, welche das sind, das ist mir eigentlich egal, aber ich benötige unbedingt auch Material über den General Keter, Fritz Keter." Das war aber ein großer Fehler, wie ich später noch merken sollte. Der Mann sah mich mit einem mal mißtrauisch an. "Keter? Kenne ich nicht. Was haben Sie denn speziell mit dem vor?" 28
  • 28. Mir wurde schlagartig klar, daß ich die Auswahl der Generale praktisch der Behörde überlassen hatte und einzig Keter namentlich erwähnt hatte. Wie dumm von mir. Schnell erwiderte ich: "Ich habe den Namen mal gelesen. Ich glaube der war mehr so ein Techniker, kein operativer Gene- ral. Den brauche ich, damit die Sendung nicht so einseitig ausfällt, ver- stehen Sie?" Ich hatte den Eindruck, daß der Mann damit zufrieden war. Er notierte sich den Namen Keter und ich verließ das Gebäude. An diesem Tag nahm ich mir nichts weiter vor und begab mich zurück in das Hotel. Ich schaute mir eine TV-Sendung nach der anderen an, denn ich wollte mich gedanklich einmal überhaupt nicht mit der Akte beschäftigen. Nach dem Abendessen im Hotelrestaurant legte ich mich dann auch bald schlafen. Am nächsten Tag bummelte ich durch Berlin, denn ich hatte ja nun unfreiwillige Wartezeit. Als ich dann abends zum Hotel zurückkam und das Foyer betrat, bemerkte ich zwei Männer, die in einer Sitzgruppe gegenüber dem Empfang saßen und jeden, der das Hotel betrat, aufmerk- sam beobachteten, so auch mich. Ein Blick zum Portier zeigte mir, daß dieser gerade den beiden Männern unauffällig, wie er sicher glaubte, zunickte. Die warteten also auf mich. Da waren sie also wieder - die Verfolger. Ich ließ mir den Schlüssel geben, fragte, ob es für mich eine Nachricht gebe oder ob jemand nach mir gefragt habe, was bezeichnenderweise verneint wurde, und begab mich auf mein Zimmer. Sofort als ich den Raum betrat, sah ich, daß er durchwühlt worden war. Mein Koffer, das Bett, die Sachen, die im Schrank hingen, einfach alles, selbst meine Badetasche. Sie suchten nach der Akte. Das war offensichtlich. Wie konnte ich so naiv sein, zu glauben, daß sie mir nicht mehr auf der Spur waren? Aber ich hatte ja niemanden bemerkt, als ich vom Hauptbahnhof zu diesem Hotel gelaufen war. Ich war mir da ziemlich sicher gewesen, daß mir nie- mand gefolgt sein konnte. Wie waren die dann aber auf meine Spur ge- kommen? Da wurde es mir schlagartig klar: Die Behörde! Ich hatte ja dort ausdrücklich Keters Akte verlangt! Und dieser Name mußte eine Art Sig- nalwirkung haben! Irgend jemand dort hatte die Leute informiert, die mich beobachteten. Verdammt! Was sollte ich machen? Polizei? Nein. Das brächte ja auch nur Unannehmlichkeiten und würde mir nicht helfen. Ich suchte nach einer Wanze, die ich aber, falls überhaupt eine da war, ungeübt in solchen Dingen, nicht fand, und schaute mir dann, nachdem ich aufgeräumt hatte, als sei nichts geschehen, einen Fernsehfilm an. Später legte ich mich angezogen auf das Bett, nicht ohne vorher einen Stuhl mit der Lehne unter die Türklinke der bereits doppelt abgeschlossenen 29
  • 29. Tür geklemmt zu haben, denn nun befürchtete ich einen nächtlichen Überfall. Ich mußte nun mit allem rechnen. Ich hatte mir vorgenommen, nur zu ruhen, aber ich schlief ein. Aber es passierte zum Glück nichts. Am nächsten Tag stand ich um neun Uhr in der Behörde vor dem Schreibtisch des für mein Anliegen Verantwortlichen. Bis zum Tor hatten mich in diskretem Abstand aber unübersehbar - sollte wohl eine Drohung sein - zwei Männer begleitet, die im Hotelfoyer bereits auf mich gewartet hatten. Ich erhielt einen Platz in einem Leseraum zugewiesen und man brachte mir eine Art Teewagen voller Akten. Alles Akten von Generalen. Leider war aber ausgerechnet die von Keter nicht dabei, wie ich schnell feststell- te. Ich ging zur Aufsicht des Leseraumes und fragte nach der Akte Keter. "Keter harn wir nich", sagte die ältere Frau im blauen Kittel und drehte sich zur anderen Seite, Geschäftigkeit vortäuschend. "Hören Sie! Sie wollen mir doch wohl nicht etwa erzählen, Sie hätten die Unterlagen von allen Generalen, nur von einem nicht?" Das fing ja schon gut an. War diese Frau einfach zu faul nachzuschauen oder war das Absicht, mir diese Akte nicht geben zu wollen? "Harn wir nich", antwortete die Frau wie ein Roboter und blätterte, ohne mich eines Blickes zu würdigen weiter in irgendwelchen Unterlagen. Und das sagte mir, daß sie gar nicht mit mir reden wollte. Die hatte einen Auftrag. Hielten die mich hier für dumm? Glaubten die, mich so leicht abwimmeln zu können? "Führen Sie mich bitte zu Ihrem Vorgesetzten." "Is nich da." Sie beachtete mich immer noch nicht und beschäftigte sich weiter mit dem Material, das sie auf einer Ablage liegen hatte. "Dann zum nächsthöheren Vorgesetzten." "Na, wenn Se det unbedingt wollen. Kommen Se." Die Frau ging ohne sichtliche Eile, den Kopf über so viel Penetranz meinerseits schüttelnd, voran und klopfte an einer Tür im nächsten Gang. "Der Bürger hier will Se sprechen", sagte sie zu dem Mann im mittleren Alter, der hinter einem Schreibtisch saß, indem sie auf mich zeigte. "Setzen Sie sich bitte", sagte der Mann, seinen Krawatten knoten festziehend und sich von seinem Platz erhebend zu mir und wies auf den Besucherstuhl. "Was kann ich für Sie tun?" fragte er, sich dabei setzend, in freundlichem zu jeder Gefälligkeit bereit scheinendem Ton. "Ich habe eine Sondergenehmigung wegen eines journalistischen Pro- jektes über Generale des MfS. Die Unterlagen eines der Generale will man mir offensichtlich vorenthalten." "Vorenthalten?" Der Mann verzog, als könne er sich das nicht vorstellen, das Gesicht. "Wo Sie doch eine Sondergenehmigung haben, wie Sie 30
  • 30. sagen? Das glaube ich nicht. Entschuldigen Sie bitte, falls unsere Mitar- beiterin sich etwas unfreundlich verhalten haben sollte, sie ist sicher überlastet. Der große Andrang im Haus. Sie verstehen?" Als er meinen regungslosen Gesichtsausdruck bemerkte, fragte er schnell: "Aber wes- halb sollte Ihnen gerade von einem einzigen General etwas vorenthalten werden? - Um wen handelt es sich denn bitte?" "Keter. General Keter." "Keter? Hm." Der Mann schien zu überlegen, brach aber schnell den offensichtlichen Versuch ab, Keter als einen der Generale zu identifizie- ren, deren Namen ihm geläufig waren. "Wissen Sie, das MfS hatte zuletzt 50 Generale gleichzeitig. Ich selbst kenne deren Namen natürlich nicht alle auswendig. - Aber ein besonders bekannter und in der Hierarchie oben angesiedelter scheint der ja nicht gewesen zu sein. - Weshalb beste- hen Sie denn eigentlich gerade auf den Unterlagen von diesem General ... wie hieß er gleich noch mal ... Peter?" "Keter". "Gut, dann eben Keter. - Wir können Ihnen jede Menge Akten geben. Warum aber gerade die von dem?" Er sah mich dabei, wie mir schien, lauernd an. Und ich glaubte trotz der freundlich gestellten Frage Tücke zu hören. "Haben Sie die Akte Keter nun für mich oder... oder muß ich erst von journalistischen Mitteln Gebrauch machen?" Das saß. Der Mann, schlagartig bar jeden Lächelns, sah mich beleidigt an, griff nach dem Telefon und sagte nachdrücklich: "Die Akte Keter bitte auf den Arbeitstisch unseres Besuchers ... Wie war gleich Ihr Name? ... unseres Besuchers Herrn Kaiser." Er hatte aufgelegt und sah mich Dank heischend an. Vielleicht war ich ungerecht. Aber ich war wütend. Ich sagte nur: "Na also, es geht doch. Warum dann das Theater?" Ohne Gruß verließ ich den Raum. Als ich an meinen Tisch zurückkam, wurde gerade von einer anderen Mitarbeiterin der Behörde die Akte Keter gebracht. Ich machte mir Notizen daraus und zum Schein dann auch welche aus anderen Generalsakten. Da ich aber meine Zeit nicht vergeuden wollte und außerdem zu Recht annehmen konnte, daß meine wahren Absichten längst bekannt waren, konzentrierte ich mich bald wieder auf Keters Akte. Am späten Nachmittag verließ ich mit umfangreichen Notizen die Behörde und begab mich, gefolgt von zwei neuen unerwünschten Beglei- tern, zurück in mein Hotel. Ich hatte nicht vor, noch an diesem Tag weiter zu fahren. Ich mußte erst einmal gedanklich verarbeiten, was ich über Keter erfahren hatte. Nach- dem ich im Hotelrestaurant zu Abend gegessen hatte, rief ich deshalb von 31
  • 31. meinem Zimmer aus den Bahnhof an und erkundigte mich nach der gün- stigsten Zugverbindung nach Kassel für den folgenden Vormittag. Es war mir egal, ob das Telefon abgehört wurde oder nicht. Daß ich in Kassel wohnte und nach dort fahren würde, das wußten die sicher längst. Ich mußte dann nur am nächsten Tag in Kassel aufpassen, daß mir niemand folgte, wenn ich zu Meike fahren würde, bei der sich ja inzwischen die Akte befand. Ich las meine Aufzeichnungen noch einmal durch. Da waren Beurtei- lungen und verschiedene andere Papiere und da war der Lebenslauf Keters. Ich hatte ihn mir auszugsweise abgeschrieben. Ich hatte gehofft, durch die Einsicht in Keters Akte neue Informationen über ihn zu erhalten, die mir helfen sollten, die Hintergründe besser zu verstehen. Leider war das nicht so. Der Lebenslauf war nicht überraschend. Es war der Ent- wicklungsweg eines kommunistischen Funktionärs vom alten Schlage. Auch die Informationen über seine Tätigkeit als Chef der WVA brachten leider nichts wesentlich Neues. Bevor ich mich auf das Bett legte, klemmte ich wieder die Lehne eines Stuhles unter die Zimmertür. Ich verschloß die Fenster, und versuchte wach zu bleiben. Irgendwann in dieser Nacht schlief ich ein. Warenthin, Frühjahr/Sommer 1955. Im Dienstzimmer des Leiters der im April 1955 gegründeten WVA Warenthin brannte auch an diesem Maiabend um 23.00 Uhr noch immer Licht. Ein kräftig gebauter Vierziger in Uniform, mit den Schulterstücken eines Generalmajors und mit militärisch kurzem Haarschnitt, saß hinter einem schweren Schreibtisch. Vor ihm lagen Listen mit Namen von Wissenschaftlern und Technikern aus zivilen Bereichen der DDR, die er für die WVA gewinnen wollte. Er hatte aber außerdem vor, nach verschollenen Waffenforschern des Dritten Reiches zu suchen. Er war sich ziemlich sicher, daß die Siegermächte nicht aller dieser für ihn möglicherweise interessanten Leute hatten habhaft werden können. Mit solchen Experten, die beträchtliches Wissen und Erfahrung mitbringen würden, wollte er die Forschungsgruppen ergänzen. Jetzt wandte er seine Aufmerksamkeit einer völlig anderen Liste zu. Er überprüfte eine Aufstellung des wissenschaftlich-technischen Personals der ehemaligen Raketenversuchsanstalt Peenemünde aus den vierziger Jahren. Neben den verschiedenen Namen waren unterschiedliche Zei- chen zu sehen. Er schaute auf ein anderes Blatt, das er vor sich liegen hatte und setzte hinter einen weiteren Namen ein Kreuz. Der Betreffende lebte also nicht mehr. Auf dem nächsten Blatt entdeckte er einen der ihn interessierenden Namen. Er nickte befriedigt und unterstrich ihn. Rechts daneben schrieb er ein großes "S", welches für "Suchen" stand. Der so 32
  • 32. markierte Name lautete: Prof. Dr. Martin Ludwig Krausinger. Die Fahn- dung nach Krausinger würde er am folgenden Morgen einleiten lassen. Keter griff nach der auf dem Aschenbecher vor sich hin glimmenden Zigarre, lehnte sich zurück, nahm einen genießerischen Zug, betrachtete die Glut und stieß dann den Rauch aus. Dabei dachte er an sein strategi- sches Entwicklungsziel für die Einrichtung, deren Leitung man ihm über- tragen hatte. Er wollte eines Tages eine Reihe hervorragender waffentechnischer Entwicklungen auf den Parteitagstisch legen "mit den besten Empfehlungen - Generalmajor Keter". Der General riß sich von seinem Tagtraum los, in dem er sich bereits von der Staats- und Parteiführung beglückwünscht sah, und konzentrierte sich wieder ganz auf seine Arbeit. Nun galt es, die konkreten nächsten Schritte ins Auge zu fassen. Etwa eine Stunde später drückte er, zufrieden mit sich, den Rest seiner Zigarre im Ascher aus, nahm seine Uniformmütze vom Haken, löschte das Licht und verließ den Raum. Es war genau ein Vierteljahr später, an einem sehr heißen Julitag. Die Fenster von Keters Dienstzimmer in der WVA waren weit geöffnet. Zwei Ventilatoren sollten die Luft im Raum erträglicher machen. Aber sie schafften es kaum. General Keter steckte sich gerade eine neue Zigarre an. An der Wand in seinem Rücken hing ein Porträt von Feliks Edmundowitsch Dzierzynski, dem Gründer der Tscheka, wie der sowjetische Geheimdienst in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution hieß. Gegenüber dem Fenster befanden sich die Porträts des Staatspräsidenten Wilhelm Pieck, des SED-Parteichefs Walter Ulbricht und des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Keter diktierte gerade seiner Sekretärin ein Schreiben. Ein Klopfen an der Tür unterbrach das Diktat. Er rief: "Herein!" Ein Offizier betrat den Raum. "Genosse General, die von Ihnen gewünschte Akte." "Danke, Sie können wegtreten." Der Ordner, den Keter nun in der Hand hielt, war als "Geheime Ver- schlußsache" gekennzeichnet und enthielt den Vorgang Krausinger, der ständig vom Abwehrchef der WVA aktualisiert wurde. Er öffnete den Aktendeckel und las das oberste Blatt, welches das Datum 04. Juli 1955 trug. Er lebt! Und sogar hier bei uns in der DDR. Ich habe es gewußt! Die Amerikaner haben ihn also nicht. - Das nenne ich Glück. Ein Lächeln veränderte seinen vorher gespannten Gesichtsausdruck. Seine Leute hatten den Gesuchten aufgespürt. Zufrieden nickte er und schlug die Asche seiner Havanna an einem schweren Messingascher ab. Dann griff er in ein Schreibtischfach, holte eine Flasche hervor und zwei 33
  • 33. Kognakschwenker. Er nickte seiner Sekretärin gönnerhaft zu: "Sie trinken doch auch ein Gläschen?" Parchim, 19. August 1955. Über dem Eingangstor des "VEB Textilmode Parchim-Beilsdorf (K)" hing in ehemals weißer, jetzt verstaubter Schrift auf verwittertem rotem Grund die Losung: "Der erste Fünfjahrplan wird vor- fristig erfüllt!" Die Fabriksirene heulte. Aus dem Tor des Betriebes strömte die Belegschaft dem tristen sozialistischen Feierabend entgegen. Am Straßenrand parkte ein schwarzer BMW, Vorkriegsmodell, an dem zwei junge Männer in Staubmänteln lehnten. Sie gaben sich betont lässig und beobachteten hinter ihren dunklen Brillen die Menschen, die den Betrieb verließen. Eine Hand wies aus dem rückwärtigen Fenster auf einen Mann, der gerade aus dem Werkstor trat und eine Stimme sagte: "Das ist er. Festnehmen. - Aber unauffällig!" Als die Zielperson vor dem Wagen die Straße überqueren wollte, stellte sich ihr einer der Männer in den Weg, der andere postierte sich seitlich daneben. "Herr Letticher?" Der so Angesprochene schien etwas über Vier- zig, war von eher schmächtiger Gestalt, aber von tadelloser Haltung, trug eine randlose Brille, einen gepflegten Vollbart und extrem kurz geschnit- tenes borstiges Haar. Er war mit einem abgetragenen, aber sauberen dun- kelblauen Anzug bekleidet. Trotz der abgeschabten Aktentasche und trotz seines eher ärmlichen Aussehens wäre einem Menschenkenner und guten Beobachter sofort aufgefallen, daß dieser Mann bereits bessere Tage erlebt haben mußte. Der Angesprochene stutzte: "Ja. Was wollen Sie von mir?" Der vor ihm Stehende sah ihn bedeutsam an und antwortete halblaut: "Kriminalpolizei. Wir haben ein paar Fragen an Sie. - Auf dem Revier. Steigen Sie bitte ein." Der mit Letticher Angeredete reagierte ungehalten: "Wieso Revier? Was soll das heißen?" Er versuchte an dem Mann vorbeizukommen, aber des- sen Begleiter stellte sich ihm in den Weg und sagte mit unterdrückter, aber scharfer Stimme: "Steigen Sie sofort ein, Bürger, sonst wird das sehr schwerwiegende Folgen für Sie haben!" Der so Angefahrene hielt weiteren Widerstand für zwecklos. Er setzte sich auf den Rücksitz zwischen zwei dieser Leute. Der Wagen fuhr los und bog um die nächste Straßenecke. Schon bald merkte er, daß die Fahrt nicht wie behauptet zum Revier führte. Er fuhr sich durch sein stoppliges Haar. Gedanken jagten ihm durch den Kopf. Er überlegte fieberhaft, was man wohl von ihm wolle und wie gefährlich diese Sache für ihn werden könnte. Ich muß jetzt stark sein, sehr stark sein, dachte er. Selbst wenn sie mich brechen werden, alles darf ich verraten, nur nicht dieses eine wirkliche Geheimnis, das ich seit zehn Jahren für mich bewahre. 34
  • 34. Der Wagen verließ die Stadt und fuhr in Richtung Süden. Er fuhr zügig und ohne Halt. Dennoch wurde erst nach etwa zwei Stunden das Ziel erreicht. Es lag in Berlin-Lichtenberg. Die Fahrt, während der nicht gesprochen worden war, endete vor einem Gebäude, das seinen Gefäng- nischarakter nicht zu leugnen vermochte. Berlin-Lichtenberg, August 1955. Eine schmale Zelle. Einzelzelle. Ein für viele Insassen von Gefängnissen schwer zu ertragender Fall. Letticher aber registrierte diese Tatsache mit dem Gefühl der Erleichterung. Wenig- stens allein. Er wollte niemanden in seiner Nähe haben, denn er befürch- tete, daß das Spitzel sein würden. Er dachte daran, daß ihm vermutlich ein solcher Spitzel erst wenige Wochen zuvor im Betrieb als Mitarbeiter zugeordnet worden war. Das war ein Mann, der ihn fast pausenlos aus- fragen wollte. Er lief, soweit der wenige Platz es zuließ, hin und her und registrierte dabei die an die Wand geklappte Pritsche, auf der er würde schlafen müssen. Auf einem dreibeinigen Holzschemel lagen zwei graue, schmut- zig aussehende Decken. Und dann war da noch ein kleiner Tisch. Und in einer Ecke stand der Kübel für die Notdurft. Es roch unangenehm in der Zelle. Hier mußte er möglicherweise für längere Zeit einsitzen? Er strich sich nervös mit der Hand durch sein Borstenhaar. Seine Schul- tern hingen kraftlos herab. Was würden die über ihn wissen? Weshalb war er hier? Bisher hatten sie auch nicht einmal andeutungsweise zu erkennen gegeben, daß sie wüßten, wer er wirklich war. Er hatte sich auf den Schemel gesetzt, stand aber ganz kurze Zeit danach wieder auf und lief erneut ruhelos auf und ab. Zu sehr bewegte ihn die Ungewißheit darüber, wie groß die Gefahr für ihn war. Er kannte den Verhaftungsgrund nicht. Man hatte ihm keinen Haftbefehl vorgelegt. Er ahnte, bei welcher Institution er sich tatsächlich in Haft befand. Er konnte also keinen Bei- stand durch einen Anwalt erwarten. All das war unüblich, wenn man erst einmal denen von der Staatssicherheit in die Hände gefallen war. Er suchte weiter nach denkbaren Ursachen für seine Festnahme. Er hatte sich doch ganz bewußt rausgehalten, damals am 17. Juni. Es war immer seine Devise gewesen, nicht aufzufallen. Seit 1945. Zehn Jahre lang hatte das geklappt. Was aber war jetzt? Er hatte sich doch nicht anders verhalten als all die Jahre vorher. - Oder diente diese Festnahme lediglich einer routinemäßigen Überprüfung? Hatten die sich vielleicht nach dem Volksaufstand von 1953, den sie faschistischen Putschversuch nannten, in ihrer Angst jeden Nichtkommunisten vorgenommen und nun war auch er dran? - Aber das wären ja einfach zu viele. Er war nahe daran, den Gedanken völlig zu verwerfen. Vielleicht ist es aber doch so, aber sie 35
  • 35. sind nach dem Zufallsprinzip vorgegangen? Und er hatte das Pech? - Sicher würden sie bald merken, daß er sich in keiner Weise beteiligt hatte. An diese Hoffnung klammerte er sich. Erleichtert beendete er sein rast- loses Hin- und Herlaufen. Dann erinnerte er sich der Zeit, als er - ebenfalls wider Willen - wochenlang in einem Lager vegetieren mußte. Er fand, daß es in dieser Zelle, trotz allem, im Vergleich zu damals wesentlich besser sei. Hatte er das "Sonderlager Nr. 7" des KGB damals Fünfundvierzig überlebt, dann würde er das jetzt erst recht überstehen. Warenthin, August 1955. Die Luft im Arbeitszimmer von Generalmajor Keter war wie immer vom Qualm seiner dicken Havanna geschwängert. Der General besprach mit Major Sorge, seinem Stellvertreter für For- schung, die Aufstellung der Forschungskollektive. Es klopfte. Ein Uniformierter trat ein und meldete: "Genosse General, die Festnahme des Letticher ist erfolgt. Im Moment befindet er sich in der Rummelsburger." Keter vernahm die Meldung sichtlich erfreut. "Danke, Genosse Ober- leutnant", antwortete er wohlgelaunt und ließ den Offizier wegtreten. Dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu. "Diese Meldung kommt ja genau richtig. Was meinen Sie, wer uns da ins Netz gegangen ist? Es ist einer der ganz Wenigen, die uns Riesenschritte voranbringen können. - Die Amis haben Wernher von Braun und praktisch die meisten Peenemünder Raketenforscher. Unsere Genossen in Moskau haben bzw. hatten andere Experten auf dem Gebiet der Waffentechnik, wie Manfred von Ardenne und Klaus Fuchs, aber auch eine Reihe anderer." Keter machte eine bedeutungsvolle Pause und setzte dann fort: "Und wir haben - sie haben's ja gerade gehört... Letticher!" Sein Gegenüber sah ihn fragend an, denn dieser Name sagte ihm nichts. Keter beugte sich etwas vor und sprach mit gesenkter Stimme, dabei seine Rechte auf das linke Handgelenk des Majors legend: "Ich sage Ihnen, Genosse Sorge, eigentlich müßten wir den Mann gleich nach Moskau weiterreichen, aber..." Keter zog seine Hand wieder zurück. Von seiner Zigarre, die er wie immer mit der linken Hand hielt, war etwas Asche auf seinen Uniformrock gefallen. Er wischte sie mit der freien Hand weg. Es schien so, als ob er kurz nachdenke, dann setzte er fort:"... wir müssen jetzt auch einmal an uns denken. Proletarischer Internationa- lismus - schön und gut. - Aber das ist ein nationales Projekt!" Erwartungs- voll schaute er Sorge, wohl Zustimmung heischend, an. Major Sorge wußte nicht, ob diese nicht gerade sowjetfreundliche These, provozierend gemeint war, um ihn zu testen, oder ob sie tatsäch- 36
  • 36. lich die gefährliche Meinung des Generals darstellte. Aber selbst wenn das ehrlich war, so konnte sich ein General vielleicht solche Gedanken leisten. Ein kleiner Major jedenfalls mußte verdammt vorsichtig sein. Er reagierte nicht sofort. Dann sagte er schließlich: "Ich habe die ganze Zeit mein Hirn gemartert und versucht, den Namen Letticher einzuordnen. Aber ich muß Ihnen ehrlich gestehen, Genösse General, ich kenne einen solchen Forscher weder als Physiker oder Ingenieurwissenschaftler, noch als sonst einen für uns interessanten Naturwissenschaftler. - Nein, also Letticher..., Letticher? Dieser Name sagt mir gar nichts. Und Sie wissen, daß ich mich da auskenne." "Genosse Sorge, ich weiß, ich weiß." Keter legte Sorge beschwichti- gend die Hand auf den Arm. "Sie sind der Fachmann. Sie kennen natür- lich alle wichtigen Fachkollegen." Er zwinkerte Sorge verschwörerisch zu: "Letticher ist selbstverständlich nicht sein richtiger Name. Das ist nur der Name unter welchem er seit dem Krieg gelebt hat. Halten Sie sich jetzt fest! - Der richtige Name dieses Mannes lautet ... Martin Ludwig Krausinger!" Keter schaute Sorge triumphierend und beifallheischend an. Sorge starrte seinen Vorgesetzten an und man sah, wie er im Geiste nach der Person suchte, die zu dem Namen paßte. Dann machte sich ein zweifelnder Ausdruck auf seinem Gesicht breit: "Krausinger? Meinen Sie etwa Professor Krausinger - den Bayern?" "Ich habe doch gewußt, daß Sie ihn kennen", bestätigte Keter. "ja, es handelt sich um Professor Dr. Krausinger. Und er stammt ursprünglich aus Bayern. Stimmt auch." Keters Gesicht spiegelte seinen Stolz über den guten Fang unübersehbar wider. "Genosse General, Sie werden es nicht glauben, aber ich kannte den Professor vor dem Krieg sogar persönlich. Ich studierte bei ihm an der Berliner Universität. Allerdings wird er sich nicht an mich erinnern. Ich war einer von hunderten Studenten, die seine interessanten Vorlesungen besuchten. Er ist - zumindest aber war - in der Tat eine echte Koryphäe auf seinem Gebiet. Sie können zu recht stolz sein, daß Sie ihn gefunden haben." "Ich sagte es Ihnen doch", erwiderte Keter und zog zufrieden an seiner Zigarre. Berlin-Lichtenberg, September 1955. Keter stand vor einer großen Glasscheibe. Als der von ihm beobachtete Letticher alias Krausinger, der im Nebenraum zum wiederholten Male verhört wurde, für einen Moment in Richtung des großen Spiegels blickte, als welchen er diese Glasscheibe von seiner Seite aus wahrnahm, zuckte Keter zurück und sah den Haupt- mann fragend an, der neben ihm stand. 37
  • 37. "Keine Sorge, Genosse General. Der Untersuchungshäftling kann uns durch dieses Glas nicht sehen, selbst wenn er genau in diese Richtung schaut. Und er kann uns auch nicht hören." Keter nickte zufrieden. "Und wie kommen Sie voran?" "Wir haben ihn jetzt bereits seit drei Wochen in der Mangel. Er scheint verunsichert. Ich bin sicher, daß er etwas verheimlicht. Irgend etwas. Das sagt mir meine Erfahrung als Verhörleiter. Aber er ist eine harte Nuß. Und verschärfte Bedingungen sollen wir ja nicht schaffen. Einfaches Verhör, so war die Anweisung." Der Hauptmann sah Keter fragend an: "Oder sollen wir jetzt einen Zahn zulegen?" "Nein, nein, das hat alles seine Richtigkeit. Ihr solltet ihn ja nur ein bißchen weichkochen. Wir beschäftigen uns weiter mit ihm. Er wird mor- gen abgeholt. - Ich bekomme zwar die Protokolle der Verhöre, aber sagen Sie mir, hat er irgend etwas Substantielles geäußert? Schuldbekenntnisse? Hat er sich in Widersprüche verstrickt?" "Widersprüche nicht. Er antwortet sehr überlegt. Entweder sagt er die Wahrheit oder, was ich eher glaube, er hat ein perfektes Lügengebäude errichtet. Er gibt zu, daß er 1947 zwei Anzüge - aus gutem Offizierstuch und als Reparationsleistungen gedacht für die Genossen in Moskau - in seinem Betrieb gestohlen und in Berlin auf dem Schwarzmarkt verscho- ben hat. Kleinbürgerliche kriminelle Gewinnsucht habe ich ihm vorge- worfen. Er bekennt sich zwar schuldig, verteidigt die Tat aber als aus der Not geboren. Als Kriegsfolge unterernährt, habe er dringend Fleisch und Butter benötigt." Der Hauptmann blickte Keter Zustimmung heischend an und setzte empört hinzu: "Dann hätten wir ja alle klauen müssen!" Als Keter nicht reagierte, fragte ihn der Offizier: "Wenn Sie ihn morgen abho- len lassen, dann können wir wohl das Verhör beenden?" "Ja, machen Sie Schluß. Wenn er in den letzten drei Wochen nicht wesentlich mehr erzählt hat, als das, was Sie mir gerade sagten, dann wird er auch in den nächsten Stunden kaum neue Aussagen machen. Außerdem wollen meine Leute ja auch noch etwas tun." Keter sah den Hauptmann bedeutsam an und sagte mit Nachdruck: "Also weiterhin verschärfte Beobachtung in der Zelle, rund um die Uhr. Ich will nicht, daß der Mann in einer Kurzschlußreaktion noch die Schnürsenkel nimmt." Er lachte kurz und trocken auf. "Die hat er zwar nicht mehr. Aber Sie wissen ja, was ich meine! Der Mann ist mir zu wich- tig. Wir brauchen ihn lebend und unversehrt!" 38
  • 38. Letticher hörte die Tür seiner Zelle quietschen. Er richtete sich auf der Pritsche auf. Wie spät würde es wohl sein? Seine Uhr hatte man ihm abgenommen. In der Zelle war es vom ersten Tag seines Aufenthaltes volle vierundzwanzig Stunden ununterbrochen hell gewesen. An der Deckenbeleuchtung konnte er sich also auch nicht orientieren. "Machen Sie sich fertig Untersuchungshäftling Letticher!" Sicher geht es wieder zum Verhör, dachte der Häftling. Bisher hatte ihm niemand Schmerzen zugefügt. Die redeten zwar mit scharfen Zungen, wurden auch beleidigend, aber seltsamerweise wurde er geschont. Wes- halb? Das mit den Anzügen schien sie ja nicht befriedigt zu haben. Den- noch hatten sie Geduld. Wenn dagegen aus den Nachbarzellen welche vom Verhör zurückgebracht wurden, dann hörte man oft Stöhnen. Er hatte sich eiligst frisch gemacht und angekleidet, da betrat der Wär- ter erneut die Zelle, um ihn zu holen. Er wurde den langen Gang mit den schweren, mehrfach verriegelten Zellentüren entlanggeführt. Er registrier- te aber, daß es diesmal nach links ging. Also nicht zum Verhör? - Würde er etwa entlassen? Hoffnung wurde aber gleich von Skepsis verdrängt. - Nein. Die hatten doch immer wieder mit Bautzen und Waldheim gedroht! Sicher ging es jetzt in eines dieser berüchtigten Stasigefängnisse. Als er dann aber die Effektenkammer betrat, keimte erneut Hoffnung auf und wurde stärker und stärker. "Hier sind Ihre persönlichen Sachen. Überprüfen Sie!" Er nickte, die Vollständigkeit bestätigend und unterschrieb eine Quit- tung. "Bin ich frei?" Ein höhnisches Grinsen überzog das Gesicht des Wärters. "Das könnte Ihnen so passen. Sie Volksfeind Sie! Man erwartet Sie bereits!" Also doch Bautzen. Letticher wurde aschgrau im Gesicht, hielt sich aber aufrecht. Er hörte, wie der Wärter sagte: "Genosse Major, ich übergebe Ihnen den Untersuchungshäftling." "In Ordnung, Genosse." Letticher wurde prüfend betrachtet: "Geht es Ihnen nicht gut, Herr Letticher?" "Es geht schon." Nur keine Schwäche zeigen! "Folgen Sie mir bitte" forderte ihn der ihm unbekannte Offizier auf. Mährenholz bei Berlin, Herbst 1955. Letticher sah sich um: Ein helles, freundliches Zimmer war es, in welches man ihn nach einer diesmal nicht so langen Autofahrt gebracht hatte. Es war ansprechend ausgestattet: Ein Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen und sogar ein bequemer Sessel. Was für ein Unterschied zur Zelle. Und auch sehr viel besser, als er es bei sich zu Hause hatte - wenn da nicht die Gitter vor den Fenstern wären. Das Zimmer befand sich in einer weißen Villa aus den zwanziger Jahren, 39
  • 39. die am Rande eines kleinen Ortes nördlich von Berlin lag. Sie stand in einem parkähnlichen Grundstück an einem See. Während der ganzen Fahrt war kein Wort gesprochen worden. Ihn hat- ten Gedanken gequält. Einen Anzugdieb begleitet doch kein Stabsoffizier. Wenn ich nur wüßte, was sie mit mir vorhaben und was sie von mir wis- sen, hatte er gedacht. Jetzt aber begann er wieder ruhiger zu werden und die Situation gelassener zu betrachten. Selbst wenn die irgend etwas wis- sen, sie können niemals die ganze Wahrheit kennen. Niemals. Das ist absolut unmöglich. Und sie werden sie auch niemals erfahren! Er begab sich zu dem Spiegel, der sich über dem Waschbecken befand, um sich zu betrachten. Er strich sich sein borstiges Haar zurecht und glät- tete seinen Bart. Dabei fiel ihm auf, daß der Spiegel fest in die Wand ein- gelassen war. Er würde also nie allein sein. Einen Intimbereich gab es auch hier nicht. Es klopfte. "Ihr Mittagessen." Ein junger Mann, Mitte der Zwanzig, in Zivil setzte ein Tablett auf dem Tisch ab. Er staunte. Eine verführerisch duftende Rinderroulade, Rotkohl und Salzkartoffeln, Schokoladenpudding mit Vanillesauce und ein Glas Rot- wein. Das in einem Raum mit vergitterten Fenstern? Das für einen Unter- suchungshäftling? - Wollten die ihn kaufen? Die erwarteten jedenfalls mehr von ihm, als ein paar Anzugdiebgeständnisse. Das war klar. Er war gerade mit dem Essen fertig und hatte sich bequem in dem Ses- sel zurückgelehnt, da öffnete sich erneut die Tür. Er wurde in einen Raum am Ende eines Ganges gebracht. Hinter einem in der Mitte des ansonsten leeren Raumes stehenden Tisch saß ein älterer Mann in Uniform. "Setzen Sie sich bitte, Herr Letticher. Ich bin Oberstleutnant Pauser, Sonderverhörer des Staatssekretariats für Sicherheit. - Damit Sie wissen, wer Ihre Gastgeber sind und mit wem Sie es zu tun haben." Letticher setzte sich und sah den neuen Verhörer gespannt an. Der ergänzte seine Vorstellung: "Ich bin zuständig für Nazistraftäter." Letticher zuckte zusammen, hatte sich aber in der Gewalt. Jetzt war es raus. Aus dieser Ecke wehte der Wind. Verdammt, das könnte ins Auge gehen. - Aber erst einmal abwarten. "Herr Letticher, Sie waren Mitglied der Nazipartei und SS-Führer. Nen- nen Sie mir Ihren dienstlichen Werdegang. Und zwar so detailliert wie möglich!" "Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee? Ich ein alter Nazi?" Let- ticher, der sich schnell gefaßt hatte, spielte den zu Unrecht Verdächtigten: "Ich war niemals in meinem Leben bei der SS! Gott bewahre! Mit denen hatte ich nichts zu tun! Wie kommen Sie nur auf so etwas?" Er wies auf seine linke Hüfte, wo er bei Kriegsende eine Verletzung erlitten hatte 40
  • 40. und setzte fort: "Und außerdem. Ich war mein Leben lang invalid. Deshalb war ich auch nicht Frontsoldat, sondern nur Volkssturmmann, damals Fünfundvierzig." Der Verhörer verzog keine Miene: "Also Herr Letticher, ich denke, Sie haben da nur einiges Wichtiges aus Ihrem früheren Leben verdrängt. Ginge mir ja vielleicht ebenso, wenn ich in Ihrer Lage wäre." Die letzten Worte waren in einem beinahe mitfühlenden Ton gesprochen worden. Letticher hielt dem lauernden Blick seines Gegenüber wortlos stand. Der entnahm nun einem Umschlag ein Foto. "Sehen Sie mal, Herr Letticher. Was halten Sie denn von diesem Foto?" Er legte ein etwa 7x10 cm großes, vergilbtes Schwarzweißfoto mit geriffelten Rändern vor ihn auf den Tisch. Letticher machte unversehens den Hals etwas lang, hob das Bild aber nicht auf. Was er da sah reichte ihm schon. Auf dem Foto war eine Grup- pe von Männern zu sehen. Einen der Uniformierten erkannte er sofort wieder. Das war ein Mann in SS-Uniform mit den Rangabzeichen eines Hauptsturmführers. Er war unangenehm überrascht: Verdammt! Da gab es also doch noch ein Foto von ihm aus dieser Zeit in Uniform. Woher haben die das nur? Er hatte sich doch so gut wie nie fotografieren lassen, jedenfalls nicht in Uniform. Er hatte nie eine eigene Familie, für die sich Fotos aufzuheben gelohnt hätte. - Ja und dann, 1943, da kam die An- weisung vom Reichssicherheitshauptamt an die gesamte "Dienststelle Forst", daß sich keiner ablichten lassen dürfe. Aus Sicherheitsgründen. Die hatten wohl irgendwie erfahren, daß die Amerikaner dabei waren, Informationen über deutsche Spitzenwissenschaftler, insbesondere über solche, die für Waffenforschung das notwendige Wissen besaßen, zu sammeln. Und sie machten sich einen Reim darauf, daß diese Forscher von amerikanischen Spezialeinheiten entweder aus Deutschland entführt oder im Reich getötet werden sollten. Zu den potentiellen Zielpersonen solcher Aktionen wurden zu recht die Angehörigen der "Dienststelle Forst" gezählt. - Aber irgendwo mußte er doch einmal fotografiert worden sein. Dann kam ihm schlagartig etwas Schreckliches zu Bewußtsein: Ob die ihn etwa mit den Konzentrationslagern in Verbindung bringen wollen? Na dann gute Nacht! Vielleicht war es doch besser, gleich klarzustellen, daß er kein SS-Mann im üblichen Sinne war, keiner von den KZ-Wach- mannschaften und auch nicht von der Waffen-SS. Schnell sagte er: "Ja. - Auf dem Foto, das ... das bin ich." Das letzte hatte er mit Mühe herausge- bracht, denn der Mund war ihm vor Aufregung trocken geworden. Zufrieden sah ihn der Verhörer an: "Ich habe ja gewußt, daß Sie das nur vergessen hatten. Sie haben sich erinnert und wir können uns nun über Einzelheiten unterhalten." Dann folgten wie aus der Pistole geschossen 41